Rezension über:

Lino Schneider-Bertenburg: 1873. Der Gründerkrach und die Krisenwahrnehmung der deutschen Sozialdemokratie , Stuttgart: W. Kohlhammer 2022, 410 S., ISBN 978-3-17-042033-5, EUR 65,00
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Rezension von:
Sebastian Teupe
Universität Bayreuth
Redaktionelle Betreuung:
Paul Blickle
Empfohlene Zitierweise:
Sebastian Teupe: Rezension von: Lino Schneider-Bertenburg: 1873. Der Gründerkrach und die Krisenwahrnehmung der deutschen Sozialdemokratie , Stuttgart: W. Kohlhammer 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 3 [15.03.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/03/36892.html


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Lino Schneider-Bertenburg: 1873

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Das Buch "1873. Der Gründerkrach und die Krisenwahrnehmung der deutschen Sozialdemokratie" von Lino Schneider-Bertenburg ist die überarbeitete Fassung einer Dissertation, die der Autor 2021 an der HHU Düsseldorf eingereicht hat. Schneider-Bertenburg nimmt die Wirtschaftskrise der 1870er Jahre als Ausgangspunkt, um nach ihrer Rolle für die politische Entwicklung der Sozialdemokratie in Deutschland zu fragen. Der "Gründerkrach" spielt schon lange in der deutschen Geschichtswissenschaft eine wichtige Rolle, da er als wegweisend für die politische Entwicklung des Kaiserreichs gilt. Darüber hinaus hat sich in jüngerer Zeit ein Forschungsstrang herausgebildet, der die deutsche Krise in einem stärker globalen Zusammenhang betrachtet, vor allem mit Blick auf Spekulationen und gesellschaftliche Reaktionen. [1] Die ihrerseits recht gut untersuchte historische Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie wurde dagegen selten in einem engen Bezug zur Gründerkrise betrachtet. [2] Dies lag vermutlich daran, dass die Sozialhistoriker bisher, wie Schneider-Bertenburg feststellt, keinen direkten Zusammenhang "zwischen Krisen und dem Aufstieg der Arbeiterbewegung" (191) feststellen konnten. Dieser eigentlich überraschenden Feststellung stellt Schneider-Bertenburg nun eine umfassende Darstellung des Zusammenhangs von Wirtschaftskrise und Sozialdemokratie gegenüber, die auf der Grundlage sozialdemokratischer Publikationen sowie gedruckter Reden zahlreiche ganz unterschiedliche Aspekte beleuchtet.

Der Hauptteil der Arbeit ist in ein erstes längeres Kapitel zum Verlauf und Hintergrund des Gründerkrachs von 1873 und in ein sehr langes zweites Kapitel zur Krisenwahrnehmung in der deutschen Sozialdemokratie unterteilt. Das Kapitel zum Gründerkrach enthält neben einer chronologischen Darstellung der Krise von den USA über Wien nach Berlin auch eine ausführliche Diskussion unterschiedlicher Krisentheorien zwischen dem 19. Jahrhundert und heute. Es führt zudem in die institutionellen Bedingungen des Kapitalismus ein und betont die Notwendigkeit, ökonomische und kulturelle Faktoren zusammenzudenken. Das Kapitel ist weitestgehend auf Grundlage der neuesten Forschung geschrieben und enthält zahlreiche interessante theoretische Überlegungen, auch wenn eine genauere Trennung zwischen zeitgenössischer und späterer wissenschaftlicher Krisenanalyse hilfreich gewesen wäre. Als empirischer Ausgangspunkt der anschließenden semantischen Analyse überzeugt das Kapitel weniger, da es kaum Informationen zu den konkreten Auswirkungen der Krise auf die Situation der Arbeiterschaft enthält, etwa die Zahl der Arbeitslosen oder die Dauer der Arbeitslosigkeit und ihre regionale Verortung.

Das zweite Kapitel beginnt mit einer sehr lesenswerten Ausführung zur politischen Entwicklung der deutschen Arbeiterbewegung zwischen 1871 und 1878 und einigen methodischen Vorbemerkungen. Es beleuchtet anschließend anhand von neun weiteren Unterkapiteln verschiedene Themen, mit denen sich die Sozialdemokraten in den 1870er Jahren publizistisch und in öffentlichen Reden auseinandersetzten. Dazu zählten die Internationalität der Krise, vergangene Krisen, Krise und Moral, sozialdemokratische Kapitalismuskritik, das Chancenpotential der Krise, die Bedeutung von Friedrich Engels als Theoretiker, Zukunftsfragen, die Gewerkschaftsfragen sowie die zahlreichen Gegner der Sozialdemokraten von der Presse über die Liberalen bis hin zur Kirche. Der semantische, zeitlich gestreckte Zugang lässt sich gerade vor dem Hintergrund der für die Sozialdemokraten keineswegs direkt "verwertbaren" Krise gut begründen. "Die Arbeiterbewegung musste die Krise erst erlernen, bevor sie sie würde nutzen können" (192). Allerdings weisen nicht alle von Schneider-Bertenburg gewählten Zugänge einen direkten Bezug zur Krise auf. Der Autor hat sich vielmehr dafür entschieden, die ganze Komplexität dieser krisenhaften Zeit aus Sicht der sozialdemokratischen Presse in den Blick zu nehmen. Das bringt einerseits eine Fülle an interessanten Erkenntnissen mit sich, geht aber auch bisweilen zu Lasten einer stringenten Analyse.

Interessant ist vor allem zu verfolgen, wie voraussetzungsreich die "Nutzbarmachung" der Krise bei genauerer Betrachtung tatsächlich war. Dies kann Schneider-Bertenburg dank seiner Detailanalyse unterschiedlicher Strömungen auch innerhalb der Sozialdemokratie sehr gut deutlich machen. Wer, wie ein Teil der Sozialdemokraten, das Deutsche Reich als politisches Steuerungsinstrument schon aus ideologischen Gründen ablehnte, tat sich natürlich schwer mit politischen "Angeboten". Wie Schneider-Bertenburg zeigt, diente das "Krisenmoment" in diesem Fall "nicht zur Gelegenheit für politische Aktion, sondern zum empirischen Beweis der herrschenden Gesetzmäßigkeiten" (313). Zudem war die Arbeiterschaft in der zeitgenössischen Wahrnehmung trotz des Problems der Arbeitslosigkeit keineswegs automatisch das Opfer der Krise, sondern sah sich umgekehrt dem Vorwurf zu hoher Löhne ausgesetzt.

Die konkret nachweisbaren Wirkungen des Gründerkrachs auf die Sozialdemokratie sind überschaubar. Die Krise scheint zunächst einmal ihren Beitrag geleistet zu haben, die zutiefst zerstrittenen Sozialisten zusammenzubringen, wobei Schneider-Bertenburg auf Grundlage der Quellen hier auch den staatlichen "Verfolgungsdruck" (372) betont, der bereits im Vorfeld des Sozialistengesetzes hoch war. Die Wirtschaftskrise zeigte den Sozialdemokraten aber auch, dass der Staat durchaus praktisch in der Lage war, taumelnden Wirtschaftssubjekten unter die Arme zu greifen, auch wenn in den 1870er Jahren davon nur Unternehmer profitierten. Aber zumindest die Sozialdemokraten in der Tradition Lassalles sahen das Potential durchaus, das solche Überlegungen für die praktische Politik hatten (336).

Etwas überraschend ist allerdings in diesem Zusammenhang die im Fazit doch recht klare Positionierung Schneider-Bertenburgs, dass es "immer öfter Konsens im sozialistischen Diskurs" geworden sei, "dass der Staat in die Wirtschaft eingreifen und der arbeitenden Bevölkerung helfen sowie Krisen vermeiden oder entschärfen sollte" (383). Das klingt zwar hin und wieder so an im empirischen Teil, steht aber auch etwas quer zu dem sehr komplexen Verhältnis der Sozialdemokraten zu "dem" Staat und den kritisch betrachteten "Kathedersozialisten". An diesem Punkt wäre eine etwas genauere Herausarbeitung der nicht-staatlichen Lösungsalternativen sinnvoll gewesen, die ja gar keinen utopischen Charakter haben mussten, wenn man etwa an genossenschaftliche Lösungsansätze denkt, die Schneider-Bertenburg v.a. unter Verweis auf die Produktivassoziationen diskutiert. Unklar bleibt auch, wie eigentlich die Gründerkrise von 1873 als Börsenkrach und die Wirtschaftskrise bis 1879, bzw. je nach Lesart sogar bis 1896 als "Große Depression", zusammenhingen. Das kann man Schneider-Bertenburg nicht zum Vorwurf machen. Die Analyse spiegelt hier lediglich ein auch in der wirtschaftshistorischen Forschung noch immer ungelöstes Problem. Vielmehr bietet das Buch durchaus Ansatzpunkte, um das Verhältnis zwischen Gründerkrach und "Großer Depression" besser zu verstehen oder zumindest gezielt zu befragen. Auf welche Krise bezieht sich etwa die Debatte zu den hohen Löhnen und steht sie überhaupt noch in einem Bezug zu den spezifischen Fragen von Moral und Korruption, die im Zuge der Gründerkrise diskutiert wurden? Die Sozialdemokraten sahen wohl die Überproduktion, "nicht die Börsenspekulation" (154) als eigentlichen Grund der Krise, was ganz im Sinne des Marxismus war. Die Analyse der Verbindung zwischen Gründerkrach und Aufstieg der Sozialdemokratie für die Phase nach 1875 macht das aber nicht unbedingt einfacher.

Insgesamt hat Schneider-Bertenburg ein nicht immer leicht zugängliches aber durchaus gehaltvolles Werk vorgelegt, das eine innovative Fragestellung an der Schnittstelle von politischer Geschichte sowie Wirtschafts- und Sozialgeschichte verfolgt und die historische Forschung um viele empirische Details bereichert.


Anmerkungen:

[1] Hannah Catherine Davies: Transatlantic Speculations: Globalization and the panics of 1873, New York 2018.

[2] Thomas Welskopp: Das Banner der Brüderlichkeit. Die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz, Bonn 2000.

Sebastian Teupe