Damien Tricoire: Die Aufklärung (= UTB; 6036), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2023, 372 S., 16 s/w-Abb., ISBN 978-3-8252-6036-1, EUR 28,00
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Bärbel Cöppicus-Wex: Die dänisch-deutsche Presse 1789-1848. Presselandschaft zwischen Ancien Régime und Revolution, Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2001
Epochenbilder gehören zur hohen Kunst des Historikers, für Lehrbücher gilt gleiches, kommt hier doch noch die Verantwortung hinzu, mit Sorgfalt und Verantwortung darzustellen, was in der universitären Lehre Orientierung bieten und Maßstäbe setzen soll. Das vorliegende Werk will darüber hinaus auch dem Fachpublikum einen neuen Zugang zur Geschichte der Aufklärung bieten.
Aufklärung, so die Definition, sei der Anspruch gewesen, durch Philosophie am sozialen und politischen Fortschritt mitzuwirken, sowie die damit verknüpften Ideen, Symbole und sozialen Praktiken. Die Grundidee der Aufklärung habe darin bestanden, die Philosophie könne Individuum und Gesellschaft moralisch bessern (38, 318).
Tricoire geht seine Aufgabe in 13 Kapiteln an. Die beiden ersten umfassen ein knappes Drittel des Buches. Deren erstes unter dem Titel "Das Genie im Morgenrock" deutet die Richtung des Werkes an: die "Philosophe-Persona", die als Krönung eines langsamen Aufstiegs der "gens de lettre" zu verstehen sei, habe als Hauptträger der Aufklärung zu gelten. Das zweite Kapitel zeigt den Philosophen in der ständischen Gesellschaft, wobei fast ausschließlich französische Vertreter und ein klein wenig die französisch dominierte Berliner Aufklärung ins Bild kommen. Selbst die Aufklärerinnen, so lernen wir in einem Unterkapitel, waren Französinnen. Es wird hier also das wahrlich nicht innovative traditionelle Bild einer in Europa alles überstrahlenden französischen Aufklärung geboten. Entsprechend agieren die Aufklärer Tricoires besonders an den Höfen.
Im dritten Kapitel geht es um "Die Erfindung der Aufklärung". Diese von Tricoire fast ausschließlich als geistige Bewegung gesehene Epoche wird als Ergebnis moraltheologischer Kontroversen verstanden, die innerhalb der christlichen Konfessionen getobt hätten, besonders zu spüren in Frankreich (99, 125). In Kapitel 4 "Fortschritt" kommen auch einzelne deutsche, schottische und englische Philosophen zu Wort. Die Kapitel 5 und 6 behandeln "Natur" und "Res publica", Kapitel 8 und 9 "Religion" und "Toleranz", die weiteren Kapitel tragen die Titel "Geschlecht", "Lust und Sex", "Rassismus" und "Kolonialismus". Wie oberflächlich vorgegangen wird, zeigen beispielhaft zwei Druckseiten (215-217), die der Frau in den aufklärerischen Debatten gewidmet sind. Hier werden starke Thesen, Rousseau, Grimm und Diderot geboten, deutsche aufklärerisch engagierte Frauen tauchen ebenso wenig auf wie deutsche Diskussionen.
Das Versprechen, die europäischen Aufklärungen zu behandeln und Einblick in die europäischen Kulturen zu bieten, bleibt uneingelöst. Tatsächlich ist das Buch in weiten Teilen auf die französische Aufklärung beschränkt, wie Personenregister, Quellen- und Literaturverzeichnis verraten. Die beiden letzteren sind für ein Lehrbuch mit dem Anspruch, auch nur ansatzweise abzubilden, was die europäischen Aufklärungen und die Aufklärungsforschungen charakterisiert, mehr als problematisch: Die skandinavische Aufklärung hat praktisch nicht existiert, gleiches gilt fast ausnahmslos für den Osten Europas, sehr vereinzelt sind Italien, die Schweiz und Spanien einbezogen. Leider fehlt ein Sachregister, das die Fehlstellen noch deutlicher machen würde. Und man vermisst im Personenregister fast alle Personen, die für eine Geschichte der deutschen Aufklärung wichtig wären. Informationen zu Zentralfiguren der Aufklärung erschöpfen sich oft in reinem Namedropping, im Quellenverzeichnis kommen die Namen dann überhaupt nicht vor. Nur zwei Beispiele: Über eine so bedeutende Persönlichkeit wie August Ludwig von Schlözer erfährt der Leser nur, dass er einen "gewissen Beitrag" zur Erfindung moderner antisemitischer Vorstellungen geleistet habe, (280) über Basedow lediglich, dass an seinem Philanthropinum Gymnastik betrieben worden sei (212).
Für ein Lehrbuch, das deutsche Leserinnen und Leser ansprechen will, sind die Leerstellen offenkundig: Der Autor kennt weder die deutsche Aufklärung noch die deutsche Aufklärungsforschung. Wichtigste Nachschlagewerke, Bibliographien und Monographien fehlen ebenso wie wesentliche deutsche Aufklärungsforscher. Mein wichtigster Einwand richtet sich gegen eine Sicht, wie sie für eine traditionelle Philosophie- und Literaturgeschichte seit fast zwei Jahrhunderten charakteristisch ist: die Aufklärung ist im Wesentlichen begrenzt auf Philosophen und Schriftsteller. Das die deutsche Aufklärung charakterisierende Bemühen tausender Autoren und in ihrem Lebensbereich aktiver Menschen, sich nicht selbstgenügsam auf die Gelehrten zu begrenzen, sondern alle Teile der Bevölkerung anzusprechen, ist Tricoire offenbar verborgen geblieben, die Volksaufklärung als breite Bürgerbewegung wird lediglich mit einigen kenntnislosen Sätzen erwähnt, die Forschungsliteratur ist Tricoire anscheinend ebenso komplett unbekannt wie die bibliographische und inhaltliche Beschreibung tausender Quellen dazu. Dass die deutsche Aufklärung sich in ihrer Breite als praktische, auf den Alltag bezogene Reformbewegung entfaltete, spielt keine Rolle. Die nach tausenden zählenden Pfarrer, Ärzte, Wirtschaftsbeamten, Gutsbesitzer und Publizisten, die sich in ihrem Alltag aufklärerisch engagierten, hat es - zumindest in diesem Buch - für Tricoire nicht gegeben.
Der Publizistik wird für die Entstehung und Entwicklung der Aufklärung durchaus eine gewisse Bedeutung zugemessen, behandelt wird dieses Feld, auf dem sich aufklärerische Kritik und Debatte entfaltete, aber höchst punktuell. Seine Kenntnis der französischen Verhältnisse verführt Tricoire, von staatlichen Zeitungen zu sprechen, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts offizielle politische und höfische Nachrichten übermittelt hätten. Dass es in Deutschland bereits während des Dreißigjährigen Krieges eine leistungsfähige nichtstaatliche Zeitungspresse gab, die im Laufe des 17. Jahrhunderts flächendeckend informierte, wird dagegen nicht erwähnt. Dass die Entstehung der Aufklärung auch da zu finden wäre, wo zunehmende Information für Weltkenntnis und Weltverständnis verantwortlich waren, kommt so natürlich nicht in den Sinn. Die umfangreichste Information zur Pressegeschichte gilt den Moralischen Wochenschriften, wo Tricoire durch das verdienstvolle Werk von Wolfgang Martens gut unterrichtet ist. Ansonsten fehlt alles, was an Forschungsliteratur von deutscher Seite vorliegt, Quellen wie die in den letzten Jahrzehnten erforschten Intelligenzblätter als Ort der aufgeklärten Debatte werden ebenso wenig genutzt wie Messrelationen, Kalender und Zeitungsextrakte oder die ersten Fachzeitschriften, kaum die Rede ist von dem riesigen Korpus der Flugschriftenpublizistik. Durchweg handelt es sich hier aber um Medien, die für den Charakter der Epoche und die Debatte über Wesen und Ziele der Aufklärung von zentraler Bedeutung sind.
Die Hauptthese des Buches, die es auch auf den Klappentext geschafft hat, bietet eine Banalität, dass nämlich stets bedacht werden müsse, wie stark die Aufklärung von vormodernen sozialen Strukturen und Diskursen geprägt war. Das Ergebnis sei überraschend, meint Tricoire, statt die geistige Wiege der säkularen und liberalen Moderne zu sein, habe die Aufklärung in der Kontinuität der religiösen mittelalterlichen Gedankenwelt gestanden. - Nein! Das ist keine Überraschung! Es gibt keinen ernstzunehmenden Aufklärungsforscher, der in solchen Gegensätzen denken würde, oder eine traditionslose Neuentstehung der Welt im 18. Jahrhundert behaupten würde. Kein Kenner der deutschen Aufklärung würde auf die Idee kommen, sie mit Religionsfeindschaft zu identifizieren.
Der Autor hat sich mit seiner Aufgabe, ein Lehrbuch zur Epoche der Aufklärung zu schaffen und ein Epochenbild zu bieten, arg verhoben - die Hauptthesen sind die seit 2015 von ihm bekannten und hier ausgiebig wiederholten. [1] Tricoire beruft sich mit Foucault auf die "Erpressung der Aufklärung", dafür oder dagegen Position beziehen zu müssen. Dem sollte sich ein Wissenschaftler sicherlich entziehen. Was man aber von jedem erwarten darf, der über diese Epoche doziert, ist eine gründliche Kenntnis derer, die sich als Aufklärerinnen und Aufklärer verstanden, sowie ihrer Schriften und Taten.
Anmerkung:
[1] Andreas Pečar / Damien Tricoire: Falsche Freunde. War die Aufklärung wirklich die Geburtsstunde der Moderne? Frankfurt am Main / New York: Campus 2015.
Holger Böning