Rezension über:

Damien Tricoire: Mit Gott rechnen. Katholische Reform und politisches Kalkül in Frankreich, Bayern und Polen-Litauen (= Religiöse Kulturen im Europa der Neuzeit; Bd. 1), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, 462 S., 15 Abb., ISBN 978-3-525-31018-2, EUR 79,99
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Rezension von:
Cornel Zwierlein
Fakultät für Geschichtswissenschaft, Ruhr-Universität Bochum
Redaktionelle Betreuung:
Johannes Wischmeyer
Empfohlene Zitierweise:
Cornel Zwierlein: Rezension von: Damien Tricoire: Mit Gott rechnen. Katholische Reform und politisches Kalkül in Frankreich, Bayern und Polen-Litauen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 6 [15.06.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/06/22444.html


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Damien Tricoire: Mit Gott rechnen

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Dieses Buch irritiert: Die in München-Pariser Doppelbetreuung (Martin Schulze-Wessel / Denis Crouzet) entstandene Frühneuzeit-Dissertation zu einem historischen Vergleich des staatlichen Marienkults in Frankreich, Bayern und Polen-Litauen vom Ende des 16. Jahrhunderts bis um 1660 setzt mit starken Sätzen ein wie: "Die bisherige Historiographie zu den politischen Prozessen und Ereignissen der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts hat die Rolle religiöser Vorstellungen meist entweder vernachlässigt oder einseitig betrachtet." - "In der Vormoderne kann man Politik und Religion nicht voneinander trennen. Dieser Satz ist wohlbekannt und wird gerne wiederholt. Und doch gibt es nur wenige Versuche nachzuvollziehen, wie diese beiden Bereiche zusammenhingen." (9f.) Auch wenn die Arbeit auf einer bemerkenswert breiten Quellenbasis von über 500 gedruckten und etlichen handschriftlichen Quellen aus Archiven in Rom, Paris, München und Polen aufruht, machen solche Generalaussagen stutzig, dächte man doch, dass die professionalisierte Geschichtswissenschaft zum 17. Jahrhundert seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert hier und da etwas zum Verhältnis von Religion und Politik beigetragen hätte. All das macht neugierig vom ersten Moment an, und hier liegt auf jeden Fall eine erstaunliche Expertise im Vergleich französischer, deutscher und polnischer Verhältnisse vor, so drängte sich der Anfang beim ganz Grundsätzlichen offenbar auf.

Die Arbeit ist in fünf Kapitel gegliedert: zunächst entwickelt Tricoire seine religionsgeschichtliche idealtypische Konzeption vom Inhalt der Katholischen Reform (I). In Kapitel II wird die Etablierung des neuen Herrschafts- und Staatsmodells um 1600 in den drei Ländern beschrieben mit dem Fokus auf den neuen Heiligenpatronaten und dann dem Marienpatronat, das dritte Kapitel vergleicht Frankreich und Bayern in den 1620er bis 1640er Jahren hinsichtlich der religiös-politischen Ausrichtung und der Bedeutung des Marienpatronats im Dreißigjährigen Krieg, Kapitel IV ist Polen-Litauens Entwicklung gewidmet, das nicht (oder kaum) in den Krieg involviert war, weshalb ein Einbezug in den vorherigen Vergleich nicht erfolgte. Im fünften Kapitel werden das Frankreich der Fronde und die zeitgleiche polnische Entwicklung bis zur Abdankung Johann Kasimirs verglichen.

Tricoire scheut nicht, sehr allgemeine Definitionen und Ansätze aus dem Bereich der Religionswissenschaften, Soziologie, Politikwissenschaften zu verwenden (Politik als Amalgam der Aspekte policy - inhaltliche Dimension -, politics - prozessuale Dimension - und polity - institutionelle Dimension; Religion als "das Feld der Beziehungen zwischen einer sichtbaren und einer unsichtbaren Welt [...d.h.] zwischen Dies- und Jenseits.", 14f.). Die basale Grundentscheidung zur Behebung des eingangs behaupteten Defizits in der bisherigen Forschung besteht darin, nicht zwischen 'Religion' und 'Politik' zu trennen, sondern als Gegenstand der Untersuchung das "religiös-politische Kalkül" zu wählen, worunter er die Art und Weise versteht, "wie Akteure anhand einer zu erwartenden Reaktion des Allmächtigen auf ihr Handeln Erfolgschancen einer Politik oder den Nutzen einer Institution errechneten." - Daher der Titel der Arbeit, 'Rechnen mit Gott'. Indem die "Präsenz beider Aspekte bei allen Entscheidungen und ihre Unzertrennbarkeit" angenommen wird, werde man der "Weltanschauung des Konfessionellen Zeitalters" gerecht, (10f., 389). Das ist einerseits elegant, andererseits methodisch tautologisch: Wenn man konzeptuell-beschreibungssprachlich nur nach Einheit sucht, kann man Differenzbildungen auf der Quellenebene von vorneherein nicht erkennen.

Der reformierte Katholizismus (so Tricoires Wortwahl in Absetzung von 'posttridentinischem' bzw. 'refashioned' Katholizisimus oder Gegenreformation) zeichne sich durch eine "entängstigende Universalisierung der Religion" aus, die in Analogien (etwa zwischen der Mutterrolle in der menschlichen Gesellschaft), Symbolen als Vergegenwärtigungen von anwesend Unsichtbarem und Tautologien begründet ist; auf eschatologische Ängste antwortete die Behauptung einer "universellen Liebeshierarchie", womit die Bildung einer Welt und Himmel umfassenden Ganzheit gemeint ist, in der dem Marienpatronat als Mittelsinstanz zwischen Staat und Gott eine zentrale Rolle zukomme. Dieser reformkatholische Grundansatz habe sich in verschiedenen Schattierungen ausgebreitet. Freilich fehlen etwa in Polen eigene Reformorden, während in Frankreich die Oratorianer, Lazaristen, Sulpizianier, Eudisten usw. geradezu aus dem Boden sprießen (99). Polen scheint weniger Bedarf an 'Entängstigung' gehabt zu haben. Für das reformkatholische Staatsverständnis wird aus der Sekundärliteratur und einigen staatstheoretischen Traktaten ein auf pietas und die rigorose iustitia (eher als clementia) ausgerichtetes Modell herausgearbeitet. Genauer werden die bekannten Symbolmomente der Aufstellung der Mariensäule in München durch Maximilian I. (1637) und das Gelübde vom 10.2.1638, mit dem Ludwig XIII. sein Königreich der Gottesmutter anvertraute, in den Kontext des Dreißigjährigen Kriegs gestellt. Für Polen-Litauen wird die zeitgleiche Indienstnahme des Marienpatronats in Projekten des Kriegs gegen Türken und Tartaren (1620-1648) aufgezeigt. Entgegen der landläufigen Rede von der 'Adelsrepublik' können so durchaus mit Westeuropa vergleichbare Tendenzen der Sakralisierung der Monarchie im Rückgriff auf marianische Symbolelemente aufgezeigt werden. Die französische Fronde 1648-52 interpretiert Tricoire marianisch: sie habe sich letztlich aus der Gruppe der schon zuvor untersuchten Kriegsgegner von 1625 gespeist, wenn die Anti-Mazarin-Pamphlete (Mazarinades) häufig an die Figur der Gottesmutter als Frankreichs Patronin appellierten; dem konnte die Regentin Anna begegnen, indem sie in der höfischen Selbstdarstellung an Ludwigs marianischen Eid von 1638 anknüpfte, ihre Regentschaft unter die der Madonna stellte, so dass Ludwig XIV. bei seiner Volljährigkeit die Sakralität des Königtums gleichsam von der Mutter Gottes selbst zurückempfing, wo sie verwaltet worden war (sehr schöne Sammlung entsprechender symbolischer Madonna/Königsfamilien-Bilder!). Auf diese Weise konnte die Krone letztlich unbeschadet aus der Fronde hervorgehen, da letztere im Effekt nicht außerhalb der royalistischen Staatskirchenkonzeption argumentiert hatte. Demgegenüber erweist sich in der zeitlich parallelen Systeminstabilität 1648-1668 in Polen-Litauen die vorherige Sakralisierung des Königtums und die Anlehnung an Marienpatronats-Konzepte nicht als ein Garant der Krone: die geringere Diffusion des Reformkatholizismus in Polen-Litauen zuvor führt zu einer Differenz zwischen dem Selbstverständnis der Krone und den verschiedenen Gruppierungen des Adels, von einem umfassenden Durchgriff auf das Volk als Ganzes zu schweigen.

Tricoires Arbeit zeugt von souveräner Beherrschung der Geschichte dreier europäischer Länder und der einschlägigen Forschungslandschaften, die er durchaus auch stets deutlicher, aber nie unangemessener Kritik unterzieht, sie zeugt von einer stupenden Sprachbegabung und einem weiten Reflexionshorizont. Das Kernthema des Marienpatronats wird an vielen Stellen vielleicht etwas rasch mit dem übergroßen Thema des Religion/Politik-Verhältnisses im Allgemeinen verschmolzen. Hier wäre aber noch die Analyse ganz anderer Quellen aus der Diplomatie und politischen Entscheidungsprozessen jenseits der kulturpolitischen Dimension und der Außendarstellung der Akteure nötig, die in größerer archivalischer Bohrungstiefe angesiedelt sind. Man lernt gleichwohl sehr viel durch die Nachweise der marianischen Referenzen und Traditionsbezüge für Frankreich, Bayern und Polen-Litauen vor allem für die 1620er Jahre bis um 1660 hinzu. Diese Fokussierung und der Vergleich sind durchweg originell und anregend.

Der Rezensent fühlt sich aber doch bei aller Anerkennung vom Grundansatz zum Widerspruch herausgefordert: Zwar ist die Untersuchung des 'Rechnens mit Gott' insoweit sehr sinnvoll, als die Valenz des Religiösen als Kalkül-Objekt ernst zu nehmen ist. Aber man muss doch auch die Ausdifferenzierung beider Sphären gerade als ein Epochenspezifikum angemessen gewichten. Tricoire stellt sich hier nicht überall der Komplexität der Dinge, etwa wenn er zur Erreichung des Ergebnisses, dass Richelieus Außenpolitik gänzlich "religiös plausibel begründet werden [konnte]" und daher "keinen machiavellistischen Charakter" aufwies (225), die ganzen einschlägigen doch 'rein politisch' argumentierenden Texte von Balzac, Boisrobert, Hay du Chastelet, Chapelain, Cardin Lebret, Philippe de Bethune, Hersent gar nicht zur Kenntnis nimmt, sondern nur die 'passende' stärker religiöse Publizistik. Der Kriegseintritt 1635 wurde bekanntlich möglichst religionsneutral als Wahrnehmung der traditionellen Protektionspflicht gegenüber dem Kurfürst von Trier legitimiert. Das Entscheidende in dieser Zeit ist ja aber gerade die Ko-Präsenz (was nicht sofort ununterscheidbare Verschmelzung meint) der verschiedenen Ebenen und sogar die Möglichkeit der Regierungen, situations- und adressatenbezogen in 'verschiedenen Sprachen' zu sprechen, nicht nur in marianischen oder machiavellischen. Barocke staatsreligiöse neu universalisierende Selbstdeutungen und Legitimationen entstehen gerade erst als neu verstärkter Kitt, als Gegenbewegung, weil überhaupt eine eigene 'Sphäre des Politischen' als Herausforderung entsteht und sich abgrenzen kann von anderen Sphären. Dies fand nicht überall und bei jedem und in jedem Sprechakt statt, aber das Potenzial war nun stets präsent.

Die Arbeit irritiert also, sie schlägt aber mit Verve den Pflock ein für die Ernstnahme des Kulturell-Religiösen im politischen Kalkül des 17. Jahrhunderts. So packt Tricoire einen gerade mit dieser Irritation, und so hat er ein mutiges und ambitioniertes Buch geschrieben, das zudem bei einem französischen Muttersprachler voller überraschender und schöner deutscher Formulierungen und Deutungen ist.

Cornel Zwierlein