Jule Ehms: Revolutionärer Syndikalismus in der Praxis. Die Betriebsarbeit der Freien Arbeiter-Union Deutschlands von 1918 bis 1933, Münster: Westfälisches Dampfboot 2023, 371 S., ISBN 978-3-89691-077-6, EUR 40,00
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Standen in der deutschen Gewerkschaftsgeschichtsschreibung bislang sozialdemokratisch oder kommunistisch orientierte Organisationen im Vordergrund, blieben andere, insbesondere anarchosyndikalistische Gruppierungen wie etwa die Freie Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD) eher am Rande. Mit Ausnahme des Standardwerks von Manfred Bock [1] liegen nur wenige Studien vor, die den Anspruch einer einordnenden Gesamtdarstellung für Deutschland erheben können. Das heißt nicht, dass die facettenreiche Ideen- und Organisationsgeschichte des Anarchosyndikalismus nicht bereits von der Literatur vielfach - teilweise auch normativ verklärt - beschrieben worden wäre. Im Gegenteil: Wer einen Blick in das umfangreiche Quellen- und Literaturverzeichnis der 2021 an der Ruhr-Universität Bochum verteidigten Dissertation von Jule Ehms wirft, die nun in überarbeiteter Form als Buch vorliegt, bekommt einen Eindruck vom Stand der Forschung. Die Autorin richtet ihr Augenmerk auf die syndikalistische Betriebsarbeit, eingebettet in Ideologie und Organisation der FAUD. Das praktische Scheitern der FAUD in den Betrieben möchte sie "ergebnisoffen" diskutieren (20); die Arbeit folge keinem teleologischen Narrativ, demzufolge der revolutionär-betriebliche Syndikalismus zwangsläufig in die Bedeutungslosigkeit habe rutschen müssen. Diese Entwicklung zeigt sich freilich schon an dem drastischen Mitgliederrückgang von 150.000 im Jahr 1918/19 auf 4300 Mitglieder im Jahr 1933.
Mit dem Fokus auf "die an ihrem Arbeitsplatz aktiven Syndikalisten", den internen Debatten in den Betrieben über Handlungsspielräume und den übergeordneten Strategien könnte Ehms durchaus beanspruchen, eine Forschungslücke zu schließen. Wegen der unzureichenden Quellenlage verzichtet sie jedoch auf eine Fallstudie, "die den Zusammenhang zwischen Arbeitsprozess, Alltagswirklichkeit und (vor-)gewerkschaftlicher Organisierung analysiert" (18). Die Autorin hat zwar die Sekundärliteratur umfassend ausgewertet, Protokolle der FAUD sowie anderer Organisationen zu Rate gezogen und Zeitschriften wie das Verbandsorgan "Der Syndikalist" studiert, sie vermag den Quellenmangel abzumildern, nicht aber zu beseitigen. Daran ändern auch die zahlreichen Archive wenig, die im Quellen- und Literaturverzeichnis aufgeführt sind. Denn es gibt einfach nicht genügend verwertbare Archivalien, um die rauen Alltags- und Arbeitswirklichkeit zu beschreiben, der die in der FAUD organisierten Arbeiterinnen und Arbeiter ausgesetzt waren.
Gleichwohl gibt die stringent durchkomponierte Studie wichtige Einblicke in die Gewerkschaftsarbeit der FAUD. Auf die Darstellung der industriellen Beziehungen in der Weimarer Republik und ihrer interessenspolitischen Akteure (Kapitel 2) folgt eine Analyse des Aufschwungs der Organisation während der krisenhaften Konstituierungsphase der Weimarer Republik (1918-1923) bis hin zur "fortschreitenden Marginalisierung" des Syndikalismus' (74) in den Jahren zwischen 1924 und 1933 (Kapitel 3). Verdienstvoll sind die in Kapitel 4 herausgearbeiteten Struktur- und Organisationsprinzipien sowie die Versuche, die zielgruppenorientierte Agitationsarbeit der FAUD deutlich zu machen. Nach Ehms war die "dezentrale Organisierung nach basisdemokratischen Prinzipien für die Syndikalist:innen eine der wichtigsten Stützen im Aufbau einer befreiten Gesellschaft" (95). Den mithin autoritär ausgeübten Zentralismus des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) oder der stalinisierten KPD-nahen Revolutionären Gewerkschaftsopposition (RGO) lehnte die FAUD strikt ab. Gleichwohl übten die wenigen bezahlten Funktionäre der Geschäftskommission politische Führungsfunktionen in den an sich dezentral-libertären Strukturen aus; dies führte zu innerorganisatorischen Spannungen. Ein weiteres Thema, die "Agitation besonderer Zielgruppen" (113), exemplifiziert Ehms am Syndikalistischen Frauenbund (SFB) beziehungsweise an Frauen, die sich in der FAUD engagieren. Deren "Forderung nach Gleichberechtigung richtete sich auch explizit an die eigenen Genossen, denen es schwerfiel, patriarchalische Verhaltensmuster abzulegen" (117).
Die Vor- und Nachteile einer auf Selbstverantwortung der Arbeiter basierenden Interessenvertretung im Arbeitskampf schildert die Autorin in Kapitel 5. Zwischen dem Konzept und der Anwendung der direkten Aktion klaffte ein Widerspruch. Letztlich blieb sie ein selten angewandtes Mittel, weil es der FAUD nicht gelang, "diese Praxis dauerhaft in ihre gewerkschaftliche Strategie zu integrieren" (156). Vier kurze Beispiele zeigen, dass sich Streiks, im FAUD-Programm fest verankert, ohne konkrete Anleitung abnutzten. So streikten Arbeiterinnen beim Textilarbeitskampf 1927 gegen den Willen des ADGB, ohne dass die FAUD daraus hätte Vorteile ziehen können (187). Die Autorin kommt zu dem Ergebnis, dass die FAUD einen gemäßigten Kurs verfolgte, der nicht auf gewaltsame Eskalation fixiert war. Hierin unterschied sich die FAUD von der Politik der RGO. Offenbar blieb die "'klassenkämpferische Konfliktstrategie' (Heinrich Potthoff) der FAUD" auch mangels Strategie- und Organisationskonsistenz oftmals bloße Rhetorik (225). Komplementär dazu liest sich Kapitel 6: "Die FAUD und das Weimarer Betriebsrats-, Tarif- und Schlichtungswesen". Schätzte die FAUD die brüchige institutionalisierte Konfliktpartnerschaft zwischen Arbeit und Kapital? Wohl kaum, wie Ehms zeigt. Diejenigen, die als Betriebsräte kandidierten oder arbeiteten, blieben isoliert. Eine Auswertung syndikalistischer Betriebsratsarbeit erfolgte trotz interner Diskussionen nicht. Ähnliches widerfuhr dem Tarifwesen. Die FAUD schwankte zwischen "Integration und Ausgrenzung". Das Fazit ist ernüchternd: "Wie im Falle der Betriebsräte fanden die Syndikalist:innen auch in diesem Zusammenhang auf die sich verändernden industriellen Beziehungen keine einheitliche Antwort und es gelang ihnen nicht, die eigenen Erfahrungen systematisch auszuwerten und in eine längerfristige Strategie zu überführen." (293).
In ihren abschließenden Überlegungen (Kapitel 7) hebt Ehms den basisnahen teilhabeorientieren Ansatz des Syndikalismus als Bestandteil einer demokratischen Gewerkschaftspraxis hervor (323). Die FAUD habe daher keinen Funktionswandel vollzogen (326) und blieb in dieser Hinsicht konsequent. Weniger konsequent war sie in ihrer tatsächlichen Konfliktbereitschaft, was die zögerliche Anwendung des Konzepts der direkten Aktion und des Generalstreiks angeht. Es gelang nicht, die FAUD als Massengewerkschaft zu konsolidieren. Ob eine gewisse Offenheit gegenüber verschiedenen Aktionsformen, wie die Autorin konstatiert, den historischen Syndikalismus für die gegenwärtige Arbeitswelt anschlussfähig machen kann (335), bleibt ungewiss. Vielmehr gelingt es der Studie entlang der historischen Entwicklungslinien, auf die Begrenztheit sich revolutionär verstehender, syndikalistischer Betriebsarbeit - auf den Widerspruch zwischen Theorie und Praxis am Beispiel der FAUD - hinzuweisen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Anmerkung:
[1] Manfred Bock: Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918-1923. Meisenheim am Glan 1969.
Jens Becker