Anette Schlimm: Regieren in Dörfern. Ländlichkeit, Staat und Selbstverwaltung, 1850-1945 (= Industrielle Welt. Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte; Bd. 103), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2023, 496 S., 10 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-52878-2, EUR 65,00
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Die an der Ludwig-Maximilians-Universität in München entstandene Habilitationsschrift führt mit drei Anekdoten in ihre Arbeit ein. Sie betreffen die drei untersuchten Orte. Es geht um die musikalischen Fähigkeiten eines Lehrers in Bernried am Starnberger See 1898, um den Feuerlöschdienst in Mahlow in Brandenburg südlich von Berlin 1903 und um den Zustand der Wege zu einer Wallfahrtskirche in Wolxheim im Elsass 1904. Die Autorin will damit zeigen, dass ländliche Akteure und Akteurinnen nicht schutzlos dem strukturellen Wandel ihrer Lebensverhältnisse in den rund hundert Jahren seit 1850 ausgeliefert waren: "Sie fanden eben nicht hinter" ihrem Rücken statt, "sondern wurden von ihnen wahrgenommen, diskutiert und gedeutet". (19) Die Autorin geht daher mit dem Begriff "Moderne" ebenso kritisch um wie mit dem Begriff "Politik". "Tradition" wertet sie als eine zeitgenössische Zuschreibung. Um dem Vorurteil zu begegnen, ländliche Räume seien "politikfern", setzt sie auf Michel Foucaults Konzept der Gouvernementalität, weil es die Praktiken der Regierten einbezieht. Gleichwohl behandelt sie das "Vorrücken des Staates in die Fläche" ebenso wie mit der politischen Organisation des Landes. Einleitend resümiert die Autorin ihre Vorüberlegungen in drei Thesen: (1.) Das 19. und 20. Jahrhundert waren - trotz gegenläufiger Forschungsbefunde - weniger unterschiedlich als zu vermuten. (2.) Der ländliche Raum war kein Container, sondern Ergebnis von Praktiken des Handelns. (3.) Tradition wird nicht durch Vorannahmen vorausgesetzt, sondern als Ergebnis von Aushandlungsprozessen dargestellt.
Der erste Block steht unter der Überschrift "Die Gouvernementalisierung der Gemeinden 1850-1900". Untersucht werden die Arbeitsfelder der Gemeindevertretung und ihrer Vorsteher. Im Anhang wird das "Personal der ländlichen Selbstverwaltung" vorgestellt (443-452). Wachsender staatlicher Einfluss ist nachzuweisen, wobei "das Durchregieren bis auf die lokale Ebene" (79) in der Regel den Kreisen überlassen wurde. Neuland betritt sie mit der Analyse der Gemeindewirtschaft. In die "kommunale Ökonomie des Notbehelfs" (161-169), dargestellt am Beispiel von Wolxheim, hätte auch die Frage nach dem Umgang mit der Dorfarmut gehört, die später behandelt wurde (237-248). Die Gemeindefinanzen (170-187) waren bislang selten Gegenstand historischer Analysen. Sie wurden durch die gute Quellenlage zu Wolxheim möglich.
Den zweiten Block "Rural modern 1875-1925" leiten zwei Fragen ein "Wer gehört zum Dorf? Und wer nicht?" (193). Diese Fragen beziehen sich vor allem auf das Heimatrecht, das nicht Bürgerrecht war. Sie zielen auch auf die soziale Ungleichheit im Dorf, die wegen des Dreiklassenwahlrechts in Preußen auf die politische Ordnung durchschlug. Den Wandel, den die Revolution 1918/19 auslöste, hätte sich der Rezensent ausführlicher dargestellt gewünscht als auf etwas mehr als zwei Seiten (213-215). Ausführlicher werden die Wahlen im bayerischen Bernried nach 1875 behandelt. Die Herausbildung des Interventionsstaats forderte auch die Gemeinden heraus. Schulen erhielten ebenso neue Bedeutung wie Infrastrukturmaßnahmen, die keineswegs nur städtische Angelegenheiten waren. Die Langzeitfolgen des Bahnanschlusses in Malchor zeigen dies deutlich. Der Abschnitt "Ländlichkeit in the making" (277ff.) - aus Sicht des Rezensenten ein sprachlicher Missgriff - setzt sich nicht nur mit der mentalen Konstruktion ländlicher Räume auseinander, sondern auch mit harten Fakten. Der "Heimatschutz" trug in Bernried qua Denkmalinventarisierung zur Konstruktion regionaler Bautypen bei und hatte den Tourismus im Blick. Mahlow schuf seit 1903 neue Siedlungen in der Bannmeile von Berlin, begünstigt durch Eisenbahnverbindungen. Bei der Erörterung des Einflusses von Krieger- und anderen Vereinen und politischen Parteien bleibt wegen der Quellenlage die Frage unentschieden, ob das Land unpolitisch gewesen sei.
Das letzte Kapitel widmen sich Krisen und Konflikten von 1900 bis 1945. Hierbei geht es zunächst um den Ersten Weltkrieg und seine Folgen, vor allem um die Lebensmittelversorgung und die Rückkehr von Wolxheim in die Republik Frankreich. Als Ergebnis der Intensivierung des ländlichen Regierens konstatiert die Autorin nach 1918 eine latente Abwehrhaltung gegen einen Staat. Wahlen auf Gemeinde- und Reichsebene liefern nun zwischen 1928 und 1932 verlässliche Indikatoren für die Anziehungskraft von Republikgegnern. Zur Herrschaft der NSDAP auf dem Dorf wirft die Autorin die Frage auf, ob es sich um einen neuen oder alten Paternalismus gehandelt habe. Ein knapper Ausblick auf die Nachkriegszeit beschließt diesen Teil.
Im letzten Abschnitt resümiert die Autorin nicht nur die Ergebnisse, sondern zeichnet Forschungsperspektiven auf. Ländlichkeit versteht sie als "Differenz", um sich von der Stadt oder dem Zentrum der Politik abzugrenzen. Dies geschah in den untersuchten Dörfern jeweils unterschiedlich. Bernried definierte sich durch Volkstümlichkeit, Mahlow durch Abgrenzung von der ausgreifenden staatlichen Bürokratie, Wolxheim über den großen Einfluss der Religion. Der Staat, verstanden als Normen- und Anstaltsstaat, war Antagonist des Landes, Kritik am Parlamentarismus verbreitet. Zur Verallgemeinbarkeit der drei Fallstudien betont die Autorin die jeweils lokalen Prägungen, die sich jedoch einfügen in abstraktere Befunde. Der Band endet mit einem vehementen Plädoyer dafür, "Land und Stadt, Kleinstadt und Metropolen in der Geschichte des 19. und 20. Jahrhundert gleichermaßen [zu] berücksichtigen". Das bedeutet: "statt zu generalisieren, müssen wir zunächst differenzieren, und zwar auch zwischen verschiedenen sozialen Räumen". (439)
Die Autorin betritt mit ihren Studien mehrfach Neuland. Ländliche Gemeinden und ihr Verhältnis zur Politik sind bisher von der deutschen Geschichtswissenschaft nicht hinreichend untersucht worden. Dies mag an der Vielgestaltigkeit der deutschen Agrarlandschaften und einer entsprechenden regionalen Zersplitterung der Forschung liegen (24 Anm. 31). Politik im 19./20. Jahrhundert als Regiertwerden und Regieren auf Ebene der kleineren Gemeinden zu erforschen, ist jedoch ein mühsames, freilich notwendiges Geschäft. Denn wer nur auf Reichstagswahlen schaut, erfährt nichts über die antidemokratischen Beeinträchtigungen durch das Dreiklassenwahlrecht. Gerade deswegen hätte sich der Rezensent eine ausführliche Debatte über das Jahr 1918/19 als mögliche Zäsur gewünscht. Dass die Autorin auf trennscharf abgegrenzte Epochen verzichtet und Überschneidungen zulässt, ist zu begrüßen. So ließen sich die auf dem Land weniger abrupt stattfindenden Transformationen besser darstellen. Wenig erfahren wir über die Strukturen der Landwirtschaft in den drei untersuchten Dörfern. Gab es keinen - andernorts zu beobachtenden - technischen Fortschritt? Auch wäre die relative Nähe zu Großstädten zu erörtern gewesen. Immerhin lagen Mahlow und Wolxheim nur rund 20 Kilometer von Berlin bzw. Straßburg und Bernried nur 30 Kilometer von München entfernt. Fanden nicht auch außerhalb von Wolxheim Abwanderungen statt? Solche Einwände klingen wohlfeil angesichts einer Arbeit, die völlig zu Recht und mit guten Gründen fordert, ländliche Räume (Dörfer) gleichgewichtig neben Städten in der Geschichte des 19./20. Jahrhunderts zu behandeln.
Wilfried Reininghaus