Kohei Saito : Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus. Aus dem Japanischen von Gregor Wakounig, München: dtv 2023, 320 S., ISBN 978-3-423-28369-4, EUR 25,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Andrea Wienhaus: Bildungswege zu "1968". Eine Kollektivbiografie des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, Bielefeld: transcript 2014
Sigrid Wadauer / Thomas Buchner / Alexander Mejstrik (eds.): The History of Labour Intermediation. Institutions and Finding Employment in the Nineteenth and Early Twentieth Centuries, New York / Oxford: Berghahn Books 2015
Michael Wolffsohn: Eine andere jüdische Weltgeschichte, Freiburg: Herder 2022
Ein kapitalismuskritisches Buch mit affirmativem Bezug auf Karl Marx auf der SPIEGEL-Bestsellerliste in Deutschland, über eine halbe Million verkaufte Exemplare in Japan, dazu zahlreiche Preise. Dieses Kunststück ist Kohei Saito gelungen, der an der Humboldt Universität zu Berlin promoviert wurde und mittlerweile als Professor an der Universität Tokio lehrt.
In dem Buch setzt sich der Autor aus marxistischer Perspektive mit der ökologischen Frage auseinander. Aus seiner Sicht untergräbt der Kapitalismus die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit. Die ökologische Krise steuere deutlich auf einen "Point of no return" (16) zu. Innerhalb der bestehenden, auf Wachstum beruhenden kapitalistischen Produktionsweise sei sie nicht zu lösen. Deshalb plädiert Saito für eine radikale Lösung: den Degrowth-Kommunismus.
Das Buch gliedert sich in acht Kapitel und ein Schlusswort. Zunächst kritisiert Saito die "imperiale Lebensweise" (22), also die Massenproduktion und -konsumtion in den nördlichen Industrieländern. Sie gehe zu Lasten der Menschen im Globalen Süden: "Hinter dem kostengünstigen, bequemen Leben in den Zentren steht also nicht nur die Ausbeutung der Arbeitskraft der Peripherie, sondern auch die Plünderung ihrer Rohstoffe und die damit einhergehenden Umweltbelastungen, die wir ihr aufbürden." (27) Der Norden externalisiere die ökologischen Auswirkungen der kapitalistischen Lebensweise in andere Weltregionen. Ihre Bewohner litten besonders darunter. Inzwischen seien die Klimakrisenerscheinungen aber so dramatisch, dass sie in die Zentren zurückschwappten und nicht mehr ignoriert werden könnten.
Im folgenden Kapitel kritisiert der Autor die unterschiedlichen Ansätze eines Green New Deal, wie sie etwa von dem Kolumnisten der New York Times Thomas Friedman vertreten werden. Dieser geht davon aus, dass technische Entwicklungen einen grünen Kapitalismus möglich machen würden, der nach wie vor auf ökonomischem Wachstum basiert, nur in anderen Branchen. Saito verwirft derartige Konzepte. Sie seien zum Scheitern verurteilt, weil die neuen Technologien keineswegs so grün seien wie suggeriert. So erfordere beispielsweise die Herstellung einer Batterie für ein Elektroauto Kobalt als Rohstoff, der nur unter umweltschädlichen und ausbeuterischen Bedingungen gewonnen werden könne. Dieses Greenwashing stelle eine Realitätsflucht dar und verstärke die imperiale Lebensweise auf Kosten der Peripherie. Die notwendige Antwort auf die ökologische Krise sei die Abkehr vom Wirtschaftswachstum, also ein Degrowth-Programm, jedoch nicht innerhalb des Kapitalismus.
Die unterschiedlichen Degrowth-Konzepte behandelt der Autor im dritten Kapitel. Zunächst kritisiert er die vorherrschende Wachstumsideologie und bezweifelt, dass Wirtschaftswachstum die Voraussetzung für ein glücklicheres Leben sei. Als mögliche Entwicklungen für die Zukunft entwirft er vier Szenarien, von denen drei Dystopien sind: Klima-Maoismus, Klima-Faschismus und Barbarei. Die einzig verbliebene Option für eine bessere Gesellschaft müsse sich vom Wachstumsfetisch verabschieden und eine konsequente Demokratisierung verfolgen. Innerhalb des Kapitalismus lasse sich dieses Vorhaben nicht verwirklichen: "Die Degrowth-Theorie der neuen Generation muss sich einer viel radikaleren Kritik bedienen: des Kommunismus." (105)
Als Schlüssel dafür betrachtet Saito die Commons, die Gemeingüter, die er im nächsten Kapitel behandelt. Bereits in Marx Reflexionen über den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur hätten sie eine bedeutende Rolle eingenommen, vor allem in der späteren Schaffensphase. Während Marx zunächst eine eurozentristische Perspektive vertreten habe, habe sich sein Blick schließlich geweitet. Entscheidend dafür sei die Auseinandersetzung mit den vorkapitalistischen Strukturen in Russland gewesen. In einem Brief an die Marxistin Vera Sassulitsch habe er darauf hingewiesen, dass das Gemeineigentum an Boden, wie es sich in den russischen Dörfern finde, zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung werden könne. Darin habe Marx sich vom Produktivismus abgewandt und sich faktisch einem ökologischen Bewusstsein geöffnet.
Dieser Schwenk sei in der Marx-Interpretation lange nicht erkannt worden und werde bis heute von zahlreichen Marxisten ignoriert, etwa im sogenannten Akzelerationismus, der im fünften Kapitel behandelt wird. Auch seine Anhänger setzen ihr Vertrauen darauf, dass die technologische Entwicklung die ökologischen Probleme lösen wird. Diese Annahme hält Saito für "Realitätsflucht".
Stattdessen plädiert er im folgenden Kapitel für eine andere Form des Überflusses. Der Kapitalismus schaffe zwar individuellen Reichtum, aber ebenso öffentlichen Mangel. Deshalb müssten sowohl die Maßstäbe für Überfluss überdacht als auch das System überwunden werden: "Eine Selbstbegrenzung, die sich einem grenzenlosen Wirtschaftswachstum entsagt und Wert auf Wohlstand für alle sowie Nachhaltigkeit legt, vergrößert das Reich der Freiheit und schafft eine degrowth-kommunistische Zukunft." (205)
Erste Schritte in diese Richtung erläutert der Autor im anschließenden Kapitel. Dabei hebt er positiv die Beiträge des französischen Wirtschaftswissenschaftlers Thomas Piketty hervor, der offensiv für die Umverteilung des Reichtums und einen demokratischen Sozialismus eintritt. Des Weiteren nennt Saito grundlegende Aspekte: Den Wandel der Gebrauchswertwirtschaft, die Verkürzung der Arbeitszeit, die Aufhebung uniformer Arbeitseinteilung, die Demokratisierung des Produktionsprozesses und die Verlagerung auf systemrelevante Arbeit, also die Abschaffung von sogenannten Bullshit-Jobs.
Im abschließenden Kapitel führt der Autor einige Beispiele an, die in diese Richtung wiesen. Er nennt die "Fearless Cities" (247), die sich den neoliberalen Paradigmen verweigerten, eine Politik zum Wohle ihrer Bewohner und einen konsequenten Klimaschutz verfolgten. So habe etwa Barcelona unter dem Druck von sozialen Bewegungen mit einer linken Bürgermeisterin den Klimanotstand erklärt und entsprechende Maßnahmen verhängt. Diese fortschrittlichen Städte organisierten sich mittlerweile in einem transnationalen Netzwerk. Ferner plädiert Saito dafür, dass die Industriestaaten sich stärker am globalen Süden orientieren, vor allem in Bezug auf die Landwirtschaft. Apodiktisch formuliert er, dass "sich der Hebel der Revolution heute" (262) dort befinde.
Der Autor fordert eine Neuausrichtung der Linken auf die "Dreifaltigkeit" (268) von Wirtschaft, Politik und Umwelt. Sie solle darauf hinarbeiten, den Kapitalismus zu überwinden, die Demokratie neu auszurichten und die Gesellschaft zu dekarbonisieren. Dieses Streben nach dem Degrowth-Kommunismus sei die einzige Möglichkeit, die Krise zu überwinden und eine gerechte und nachhaltige Gesellschaft zu errichten.
Das Buch liefert zweifellos einigen Stoff zum Nachdenken. Lässt sich die ökologische Krise realiter nicht mehr innerhalb des bestehenden Systems lösen, wie der Autor behauptet? Dann erschiene es wirklich notwendig, über radikale Alternativen nachzudenken, die mit dem bisherigen Wachstumsparadigma brechen. Ob sich hierfür allerdings der historisch kontaminierte Begriff des Kommunismus eignet, lässt sich mit Fug und Recht bestreiten.
Unnötig ist es darüber hinaus, dass Saito sich als der eigentlich wahre Marx-Interpret präsentiert. Diese Marotte von Marx-Exegeten stellt an sich kein Argument dar und behauptet dennoch eine unbestreitbare Autorität für die eigene Position. Diese Haltung mutet geradezu seltsam an, da der als zentral postulierte Brief von Marx an Sasullitsch bislang keineswegs unbekannt war.
Saitos Buch ergänzt die sich in den letzten Jahren abzeichnende Renaissance von Gegenentwürfen zur bestehenden kapitalistischen Produktionsweise vor dem Hintergrund der ökologischen Krise. Darüber nachzudenken, auch wenn man zu anderen Schlussfolgerungen kommen mag, ist zweifellos mehr als angebracht.
Sebastian Voigt