Rezension über:

Michael Wolffsohn: Eine andere jüdische Weltgeschichte, Freiburg: Herder 2022, 368 S., ISBN 978-3-451-38978-8, EUR 28,00
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Rezension von:
Sebastian Voigt
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Sebastian Voigt: Rezension von: Michael Wolffsohn: Eine andere jüdische Weltgeschichte, Freiburg: Herder 2022, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 1 [15.01.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/01/38130.html


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Michael Wolffsohn: Eine andere jüdische Weltgeschichte

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Michael Wolffsohn, emeritierter Professor für Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München, hat sich viel vorgenommen. In der Tradition jüdischer Geschichtsschreibung von Heinrich Graetz' "Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart" und Simon Dubnows "Weltgeschichte des jüdischen Volkes" entwirft der Autor ein Panorama über die Epochen und Themen hinweg. Das Buch gliedert sich in neun unterschiedlich lange Kapitel, die sich von der Biologie über die Geografie bis zu Theologie und Sexualität erstrecken.

Der umfangreichste, über 200 Seiten lange Teil umfasst "Das Land Israel und die mehrfache Diaspora". Darin erläutert Wolffsohn mit Bezug auf eine Formulierung von Georges-Arthur Goldschmidt die prekäre "Existenz auf Widerruf" (14), die die Juden seit jeher zu führen gezwungen waren. Sie erlitten immer wieder Diskriminierungen, wurden vertrieben, siedelten sich neu an, um schließlich den Kreislauf von vorne anzufangen.

Wolffsohn beginnt allerdings mit einem knappen Kapitel über Namen und Benennungen, um anschließend die Biologie und Abstammung zu erläutern. Dieses etwas irritierend genetisch argumentierende Kapitel kommt zum Fazit: "Gemäß außerpersönlicher, 'objektiver' Faktoren sind 'die' Juden sowohl Volk als auch Nation, Religion und Schicksalsgemeinschaft." (32)

Das gemeinsame Schicksal der Juden erläutert der Autor schließlich in einer globalen Perspektive. Neben dem Anfang in Erez Israel handelt er sowohl den Orient als auch den Okzident ab. Dieser Rundumschlag ist beeindruckend, versammelt unzählige Kenntnisse über die Geschichte der einzelnen Länder, aber evoziert zugleich Irritationen. Die Vielzahl an behandelten Ländern über einen langen Zeitraum führt bisweilen zu wenig nachvollziehbaren zeitlichen Sprüngen, historischen Parallelisierungen und politischen Aktualisierungen. So heißt es im Kapitel zu Frankreich über die Vertreibung der Juden im Mittelalter: "Ansonsten waren Judenvertreibungen um 1500 in Westeuropa regelrecht 'Mode'. Erinnert sei an Spanien 1492 und Portugal 1497. Hitler und seine Mitverbrecher hatten 'Vorbilder'. Deutscher 'Sonderweg'? Nicht nur Juden gegenüber wurden im 'Westen' Schutzversprechen gebrochen. Und nicht nur im Mittelalter. Siehe Appeasement München 1938, Ukraine (Budapester Memorandum als 'Garantie' 1994 und 2022 die Wirklichkeit). 'Westliche Werte'?" (170-171).

Es scheint so, als ob der historische Verlauf ein ständig wiederkehrender Kreislauf sei. Dieser Maßgabe folgend, unterscheidet Wolffsohn auch nicht ausreichend zwischen unterschiedlichen Ausdrucksformen und Transformationen des Judenhasses. Derartige Formulierungen und Sprünge schmälern den Wert dieses umfangreichen Panoramas jüdischer Geschichte in globaler Perspektive.

Ebenso pflegt Wolfssohn einen Umgang mit Forschungsliteratur, der sich dem Leser nicht auf den ersten Blick erschließt. Die fehlenden Fußnoten erhöhen zwar generell den Lesefluss, allerdings führt der Autor an manchen Stellen dann Literatur in Klammern an oder empfiehlt ein Werk zu einem bestimmten Thema explizit im Fließtext. Solche Hinweise mögen für die Fachdiskussion relevant, dürften für die meisten Rezipienten wenig hilfreich sein.

Des Weiteren nutzt der Autor ein unterschiedliches Schriftbild, nämlich Kursivierung, um subjektive Einschätzungen und Bewertungen abzusetzen. Bei einigen Passsagen ist jedoch nicht ganz ersichtlich, warum sie kursiviert wurden, bei anderen nicht, warum sie nicht kursiviert wurden. Zu Recht weist Wolffsohn bereits im Vorwort auf die Notwendigkeit der Auswahl und des Weglassens in einem Buch über jüdische Weltgeschichte hin. Doch darin liegen bereits ein subjektives Moment und eine wertende Vorentscheidung.

Nach dem umfangreichen globalhistorischen Blick auf die Geschichte der Juden von Europa bis nach Australien, von Nordamerika bis Südostasien erläutert der Autor die Grundlagen der jüdischen Religion. Neben den religiösen Fundamenten behandelt er auch die Speisegesetze, die Beschneidung und die Kippa. Ferner geht er auf innerjüdische Konflikte und den Konflikt zwischen Gottesgehorsam und antiautoritärem Denken ein, der das Judentum durchzieht. Wolffsohn spricht von einem "gottgläubigen Atheismus" und fährt fort: "Dass Außenstehende 'die' Juden als 'Ruhestörer' empfanden (und empfinden) und sie sich seit jeher untereinander befehden sowie gegen ihre Obrigkeit in Gemeinden und, sofern existierend, im eigenen Staat rebellieren, ist die Folge dieser, wie ich finde, höchst aufgeklärt, selbstbestimmten und -bestimmenden Tradition." (282)

In den abschließenden Kapiteln geht der Autor noch auf gängige antijüdische Klischees ein. So erläutert er beispielsweise, dass der Grundsatz "Auge um Auge, Zahn um Zahn" keineswegs für einen strafenden, rachsüchtigen Gott im Judentum steht, sondern gerade für das Gegenteil, nämlich die Verhältnismäßigkeit von Straftat und -maß.

Schwierig erscheint dem Rezensenten das Verlangen nach Differenzierung hinsichtlich des Judenhasses. So schreibt Wolffsohn: "Sogar der Antisemitismus hat seine guten Seiten. Obwohl seit rund 3000 Jahren Juden unterschiedslos diskriminierend oder liquidierend, hilft die Judenfeindschaft dem Überleben des seit dem 19. Jahrhundert mehrheitlich nichtreligiösen jüdischen Kollektivs." (301)

Der Judenhass führte zu unsäglichem Leid und millionenfachem Mord, was der Autor in dem Buch selbst darlegt. Vor diesem Hintergrund ist eine solche Aussage schwer nachvollziehbar. Vielleicht hätten sich ohne die beständigen Anfeindungen und Pogrome mehr Juden in die sie umgebende Gesellschaft assimiliert, aber es wären sicherlich weniger Menschen ermordet worden. Dem Gedankengang Wolfssohns zufolge half es, dass Teile des Kollektivs ihr Leben ließen, damit das Kollektiv als Ganzes überleben konnte. Die Frage, ob es dafür andere Wege gegeben hätte, bewegt sich im Bereich der Spekulation.

Das Buch, das mit einer als subjektiv markierten Auswahl von Kurzbiografien bedeutsamer Juden schließt, hinterlässt insgesamt einen zwiespältigen Eindruck. Einerseits hat der Autor beeindruckend viel Material zusammengetragen, das einen guten Überblick über die Geschichte, Religion und Kultur der Juden von den Anfängen bis heute bietet. Andererseits schmälern die oben angeführten Mankos und die bisweilen eigenwilligen Schlussfolgerungen Wolffsohns den Lesegenuss. Leider schlagen sich die flapsigen Formulierungen und die nicht nachvollziehbaren Gedankensprünge auch auf den Erkenntniswert nieder. Michael Wolffsohn legt mit seinem Versuch einer jüdischen Weltgeschichte ein wichtiges Buch vor. Allerdings erreicht der Autor nicht das Niveau von Heinrich Graetz oder Simon Dubnow. Aber wer könnte das schon?

Sebastian Voigt