Simon Schaupp: Stoffwechselpolitik. Arbeit, Natur und die Zukunft des Planeten (= edition suhrkamp), Berlin: Suhrkamp 2024, 432 S., ISBN 978-3-518-02986-2, EUR 24,00
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Die ökologische Krise ist allgegenwärtig. 2024 war gemäß dem europäischen Erdbeobachtungsprogramm Copernicus das wärmste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen. Die Extremwetterereignisse nahmen stark zu - Dürre und Wassermangel einerseits, Starkregen und Überschwemmungen andererseits. Eine Krise scheint die nächste abzulösen.
Dieser Problematik wendet sich Simon Schaupp, zurzeit Gastprofessor an der TU Berlin, aus einer arbeitssoziologischen und historischen Perspektive zu, die er wählt, weil ein großer Teil der umweltschädlichen Emissionen in der Arbeitswelt entsteht. Dieser Bereich steht aber zumeist nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, wenn es um die ökologische Krise geht. Der Autor legt den Fokus deshalb auf den Zusammenhang von Arbeit und Umwelt und verwendet dafür in Anlehnung an Karl Marx den Begriff "Stoffwechselpolitik" (19). Er schreibt: "Arbeit und Natur stehen in einem Verhältnis unauflöslicher Wechselbeziehungen zueinander. Damit wird Arbeit zu einem zentralen Ort für die Entstehung der ökologischen Krise - und möglicherweise auch für ihre Überwindung." (11)
Der Mensch habe seit jeher die natürlichen Bedingungen durch seine Arbeit beeinflusst. Er habe die Erde nutzbar gemacht und dadurch grundlegend verändert. Diese Veränderung mit all ihren gravierenden Auswirkungen erhielt mit der Entstehung des Kapitalismus und der Industriearbeit eine ganz neue Dimension. Um diese Entwicklung nachzuvollziehen, bedürfe es einer "historisch-geografische[n] Soziologie der Arbeit" (23).
Dieser wendet sich Schaupp in neun Kapiteln zu, die jeweils historische Episoden beziehungsweise theoretische Überlegungen behandeln. Nach allgemeinen Erörterungen zur "ökologischen Arbeit" (26), folgen Ausführungen zur Durchsetzung der Industriearbeit im kolonialen Kontext sowie zu der Bedeutung der Kohle bei der Institutionalisierung der Stoffwechselpolitik. Thematisiert werden die Fleischfabriken in Chicago als neue Modelle der Produktion und Verwertung der Natur, die Autoarbeit als fossiler Klassenkompromiss, die Nutzbarmachung von Körpern und die zunehmende Relevanz der Reproduktionsarbeit. Die letzten beiden Kapitel behandeln die Rolle der Wissenschaft als Teil des gesellschaftlichen Stoffwechsels und die verheerende Wirkung der Betonindustrie. Der Autor schließt mit Ausführungen zu "Politiken der Nutzlosigkeit", die einen Ausweg aus der aktuellen Krisensituation bieten könnten.
Die meisten Beispiele und historischen Ausführungen des Buches sind nicht neu; aber dem Autor gelingt es, sie in einer nachvollziehbaren Weise in einem neuen Zusammenhang und in einem übergreifenden Kontext zu präsentieren. Insofern ist das Werk intellektuell anregend und darüber hinaus gut lesbar geschrieben.
Schaupp begreift die Natur als eigenständigen Akteur im Prozess der Nutzbarmachung durch die Menschen. Die Arbeitenden seien immer gezwungen, sich ein spezifisches Umweltwissen anzueignen: "Das Wissen über die Autonomie der Natur ist eine funktionale Voraussetzung, um die Tätigkeit effektiv auszuführen." (53) Wie Arbeitende diese Kenntnis auch im eigenen Sinne nutzten, um eine Verbesserung ihrer Bedingungen zu erreichen, demonstriert der Autor in den verschiedenen Kapiteln.
Er beschreibt den Prozess, wie sich Lohnarbeit sukzessive durchsetzte und die gesellschaftlichen Verhältnisse umwälzte. Diese Umwälzung betraf nicht nur die Arbeitsbedingungen, sondern auch eine spezifische Körperpolitik und ein rigides Zeitregime: "Die Standardisierung der Zeit zielte demgegenüber darauf ab, die Rhythmen von innerer und äußerer Natur voneinander abzukoppeln" (74).
Die Durchsetzung der Lohnarbeit sei eng verbunden mit dem europäischen Kolonialismus und der Unterwerfung anderer Weltregionen. Die Kolonisatoren veränderten die Ökosysteme massiv, unterdrückten und töteten die indigene Bevölkerung - sei es in der Karibik, in Nordamerika oder Afrika. Die Unterworfenen verstanden es aber, die natürlichen Gegebenheiten für ihre Zwecke einzusetzen. Schaupp führt aus, wie die Sklaven in Haiti in ihrem Aufstand in den 1790er Jahren bewusst die Kämpfe in Moskitogebieten provozierten, weil die Europäer für Malaria und Gelbfieber sehr anfällig waren. Die Autonomie der Natur sei dabei "kein zufälliger Einflussfaktor" gewesen, "sondern von den Aufständischen gezielt im Sinne eines ökologischen Eigensinns genutzt" (88) worden.
Die Durchsetzung der Steinkohle leitete schließlich das fossile Zeitalter ein und beschleunigte den gesellschaftlichen Stoffwechsel mit der Natur, wie Schaupp im folgenden Kapitel darlegt. Es führte ebenfalls zur gewerkschaftlichen Organisierung von Arbeitern und heftigen Arbeitskämpfen. Aufgrund der zentralen Rolle der Kohle für die Industrie besaßen die Bergleute eine große Kampfkraft. Der Rohstoff stellte auch die Grundlage für das Eisenbahnsystem dar, das binnen kurzer Zeit das Transport- und Logistikwesen revolutionierte.
Anschließend behandelt der Autor den Vieh- und Fleischmarkt in Chicago, der sich im späten 19. Jahrhundert zum größten des Landes entwickelte. Dort kam auch erstmals das Fließband zum Einsatz, um die Produktion zu effektivieren. Deshalb markierten die Schlachtfabriken "die Geburtsstunde der modernen Arbeitswelt" (190).
Die Arbeitsverhältnisse dort waren erbärmlich. Die Industrialisierung der Arbeit ermöglichte jedoch zugleich, den Prozess an einem einzigen Punkt zu sabotieren, um ihn gänzlich zum Stillstand zu bringen. Wenn die Tierkadaver nicht sofort verarbeitet wurden, verwesten sie schnell. Dieses Wissen nutzten die Beschäftigten, um den Arbeitsprozess lahmzulegen.
Das nächste Kapitel behandelt die Bedeutung der Automobilproduktion als Symbol für den fossilen Klassenkompromiss. Seine Voraussetzung war, dass Erdöl die Kohle als Hauptenergieträger ersetzte. Schaupp spricht in dieser Hinsicht von einem "welthistorischen Einschnitt" (200). Die Produktion von Autos brachte nicht nur den massenhaften Einsatz von Fließbändern mit sich, sondern auch ein neues Prinzip des Arbeitsprozesses. Er wurde in seine einzelnen Schritte zerlegt und unter rationalen Gesichtspunkten optimiert. Die dadurch zunehmenden monotonen Tätigkeiten machen den Toyotismus aus, ein Arbeitsprinzip, das der japanische Autokonzern als erster einführte.
Diese Art der Arbeit forderte ihren Tribut bei den Lohnabhängigen. Der arbeitende Körper litt darunter; immer mehr Arbeiter hatten mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen. Deshalb stieg in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die gesellschaftliche Bedeutung des Gesundheits- und Sozialwesens. Die Anzahl der darin beschäftigten Personen ist über die letzten Jahrzehnte kontinuierlich gestiegen.
Eine wichtige Rolle in diesen ganzen Veränderungsprozessen spiele die Wissenschaft, deren Ambivalenz in einem weiteren Kapitel reflektiert wird. Ihre Erkenntnisse seien unerlässlich für die Ausbeutung und Nutzbarmachung der Natur. Zugleich enthalte sie ein transformatives Potenzial, das genutzt werden könne, um die gesellschaftlichen Bedingungen zu verändern und das Mensch-Natur-Verhältnis anders zu gestalten.
Dem entgegen stehe heutzutage vor allem der Beton als Baustoff, die "nach Wasser [...] meistgenutzte Substanz der Welt" (293). Er stehe exemplarisch für die Überausbeutung der Natur, da seine Produktion extrem energieintensiv sei und Unmengen an einem weiteren Rohstoff verbrauche: Sand. Am Beispiel des chinesischen Baubooms diskutiert Schaupp ihre verheerenden Auswirkungen auf die Klimakrise.
Abschließend plädiert der Autor dafür, sich den vorherrschenden Maximen von Wachstum, Effizienz und Ausbeutung der Natur zu entziehen und durch eine "[l]ustvolle Nutzlosigkeit" (362) zu ersetzen. Die Politiken der Nutzlosigkeit beschreibt er in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen.
Das Buch steht in einer Reihe verschiedener Publikationen der letzten Jahre zur Klimakrise, ihrem Zusammenhang zur (kapitalistischen) Produktionsweise und den herrschenden Imperativen. Anregend ist die Verbindung einer arbeitssoziologischen mit der historischen Sichtweise. Schaupp macht die Bedeutung der Arbeitswelt und ihre enge Wechselwirkung mit den Umweltbedingungen an zahlreichen Beispielen deutlich. Diese "Stoffwechselpolitik" sollte häufiger im Fokus der Geschichtswissenschaft stehen.
Sebastian Voigt