Jürgen John: Die »Ära Paul« in Thüringen 1945 bis 1947. Möglichkeiten und Grenzken landespolitischen Handelns in der frühen SBZ (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe; Bd. 44), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2023, 2 Bde., XXIX + 2729 S., 65 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-10995-0, EUR 140,00
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Die Geschichte der Länder in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) weckt seit einiger Zeit wieder vermehrt das Interesse der Forschung. In Abgrenzung zu früheren Arbeiten wird nicht vorrangig der Weg in die Diktatur beschrieben, im Mittelpunkt stehen vielmehr die vorherrschenden Demokratievorstellungen und die konkrete Landespolitik. Diese Perspektive nimmt auch Jürgen John in seinem Buch über Rudolf Paul und seinem Wirken als Thüringer Ministerpräsident von 1945 bis 1947 ein.
Bei der Studie handelt es sich um ein im doppelten Wortsinn gewichtiges Buch. Immens ist allein der Umfang - zwei Bände mit insgesamt knapp 1900 Seiten. Beeindruckend ist aber auch die inhaltliche Breite. Zum einen schildert der Autor die Biografie von Rudolf Paul und dessen politisches Handeln. Zum anderen befasst sich die Studie ausführlich mit der politischen Entwicklung Thüringens in der unmittelbaren Nachkriegszeit, angefangen von Struktur und personeller Zusammensetzung der Landesverwaltung über deren Handlungsfelder bis hin zu Aufbau und Rolle der Sowjetischen Militäradministration vor Ort. Dank dieser thematischen Spannweite und einem umfangreichen Anhang mit zahlreichen Statistiken und Biogrammen der wichtigsten Protagonisten stellt das Buch ein grundlegendes Nachschlagewerk zur Geschichte Thüringens nach 1945 dar. Diesen handbuchartigen Charakter unterstreicht die digitale Quellenedition der Thüringer Landes- und Universitätsbibliothek Jena zur "Ära Paul", die die Studie ergänzt.
Zu Recht konstatiert John eingangs eine doppelte Forschungslücke. In der DDR galt Rudolf Paul seit seiner Flucht als Unperson. Darstellungen zur Geschichte der SBZ gingen nicht oder nur negativ auf seine Amtszeit ein. In der Bundesrepublik gab es zunächst ein größeres öffentliches Interesse an der Flucht von Paul, das aber nach dem Mauerbau 1961 schwand. Die historische Forschung zur Nachkriegsgeschichte wiederum beschäftigte sich kaum mit der Entwicklung Thüringens unter dem Ministerpräsidenten Paul. Auch nach der Wiedervereinigung blieb die "Ära Paul" - abgesehen von kleinen Studien - ein blinder Fleck in der historischen Landeskunde.
Im biographischen Teil der Studie porträtiert John Rudolf Paul (1893-1978) als facettenreiche, kulturell interessierte und umtriebige Person, ohne die kritische Distanz zu verlieren. Der promovierte Jurist machte sich nach dem Kriegsdienst und einem Intermezzo als politischer Staatsanwalt rasch als Rechtsanwalt und Notar in Gera einen Namen. Politisch engagierte sich Paul während der Weimarer Republik in der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) und gehörte zusammen mit seiner Frau, die aus einer jüdischen Kaufhausfamilie stammte, zum linksliberalen Bürgertum seiner Heimatstadt. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 bedeutete daher auch für ihn einen tiefen Bruch, er erhielt Berufsverbot und musste sich eine neue Existenz als Landwirt aufbauen. Nach dem Ende des NS-Regimes übernahm der unbelastete Paul zunächst als Oberbürgermeister Geras Verantwortung, wenig später als Thüringer Ministerpräsident. Paul, seit 1946 SED-Mitglied, legte ein hohes Arbeitspensum an den Tag, pflegte zum Missfallen der eigenen Partei aber auch einen großzügigen Lebensstil. Im September 1947 erfolgte dann der Paukenschlag: Angesichts immer kleiner werdender Handlungsspielräume floh er in die US-amerikanische Besatzungszone, wo er sich schließlich in Frankfurt am Main eine neue Existenz als Rechtsanwalt aufbaute.
Aufbauend auf der Biographie von Paul befasst sich John nuanciert mit dessen zweijähriger Regierungszeit in Thüringen. Im Sinne einer "offenen Geschichte" betont der Autor berechtigterweise, dass damals eine Teilung Deutschlands in zwei Staaten mit entgegengesetzten politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systemen trotz zunehmender Spannungen zwischen den Alliierten noch nicht vorhersehbar gewesen sei. Mit Blick auf die politische Situation in der Sowjetischen Besatzungszone spricht John treffend von einer "beschränkten Pluralität". Neben der von der Besatzungsmacht gestützten SED gab es mit CDU und LDP weitere Parteien, die ebenfalls einen Gestaltungs- und Führungsanspruch erhoben. Zwar musste sich Thüringen wie die anderen Länder den Vorgaben der sowjetischen Militäradministration unterordnen, es war aber noch nicht zugunsten einer deutschen Zentralregierung entmachtet und konnte Gesetze erlassen.
Diese relative Eigenstätigkeit nutzte die thüringische Landesregierung. Sie bemühte sich um rechtsstaatliche Strukturen und eröffnete als erstes Land in der SBZ ein unabhängiges Oberverwaltungsgericht. Eigene Wege beschritt Thüringen ebenso bei der Integration von "Umsiedlern", die man über Verordnungen und Gesetze vor sozialer Benachteiligung schützen wollte. Selbstbewusst suchte Thüringen außerdem den Austausch mit Ländern in den westlichen Besatzungszonen, allen voran zu Hessen. Allerdings geriet die Landeshoheit in Pauls Amtszeit verstärkt unter Druck. So häuften sich Konflikte mit den Zentralverwaltungen in Berlin, deren Steuerungsanspruch zunehmend von der sowjetischen Militärverwaltung unterstützt wurde.
Die große Akribie und der handbuchartige Charakter des Buches sind Stärke und Schwäche zugleich. Nicht nur, dass die Lektüre von knapp 1300 Textseiten Ausdauer und Geduld erfordert. Auch fällt es manchmal schwer, ob der Detailfülle die Übersicht zu behalten, zumal eine einordende Zusammenfassung fehlt. Mit dem Umfang geht zudem ein Verkaufspreis einher, der selbst für historisch Interessierte zu hoch sein dürfte. Das ist bedauerlich, denn das Buch hätte ein größeres Publikum verdient. Vor diesem Hintergrund wäre es sinnvoll gewesen, den informativen, aber voluminösen Anhang - wie die Quellenedition - auf einer eigenen Webseite zu bündeln.
Trotz dieser Kritik hat Jürgen John mit seinem Buch zur "Ära Paul" Bleibendes geleistet. Sein Verdienst ist es nicht allein, Leben und Wirken von Paul detailliert und anschaulich zu erzählen. Ausführlich beleuchtet John ebenfalls die Thüringer Landespolitik nach 1945 und die Rolle der Sowjetischen Militäradministration vor Ort. Damit liegt ein Grundlagenwerk zur Geschichte Thüringens in der Nachkriegszeit vor, von dem die künftige Forschung enorm profitieren wird.
Bertram Triebel