Hannes Engl: Rekonfigurationen regionaler Ordnungen. Die religiösen Gemeinschaften in Lothringen und das Papsttum (ca. 930-1130) (= Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii; 49), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2023, VIII + 345 S., 5 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-52821-8, EUR 55,00
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Welchen Anteil hatten religiöse Gemeinschaften an der Etablierung des Papsttums, in welchen Formen und Funktionen erfolgten deren "Papstkontakte" (12), welche Ursachen hatten und welche Folgen zeitigten sie? Diesen Leitfragen geht vorliegende Studie, die durch ihre Materialdichte und den Tiefgang und Feinsinn in deren Analyse und Interpretation beeindruckt, für ein Kerngebiet des lateinischen Westens nach. Ist der Beginn mit den vieldiskutierten monastischen Reformen ab ca. 930 für den Untersuchungsraum treffend gesetzt, so erscheint der Endpunkt um 1130 relativ willkürlich, jedenfalls nicht hinreichend begründet (17-18). Das erwähnte Gebiet ist Lothringen im Sinne der gegenwärtigen Lorraine, zuzüglich des einstigen Metzer Anteils in der Westpfalz, denn Engl denkt und agiert völlig zurecht im räumlichen Rahmen kirchlicher Organisation und Administration, konkret in dem der Diözesen. Für den Untersuchungsraum sind dies folglich die Diözesen Metz, Toul und Verdun. In konzeptioneller und terminologischer Hinsicht umgeht er damit die Klippen, die sich hinter Begrifflichkeit und Verständnis um 'Lotharingien', 'Lothringen' etc. verbergen - Engl benennt diese an erster Stelle (1-2), zeigt in seinen Ausführungen dann gelegentlich Unschärfe im Gebrauch der Raumterminologie. In methodischer und inhaltlicher Hinsicht darf man aber doch grundsätzlich die Frage stellen, ob das Ausklammern der übergeordneten Kategorie - des Erzbistums und des Trierer Metropoliten - von vorneherein gerechtfertigt sein mag. Auf Ebene der Bischöfe liefen Kontakte nach Rom jedenfalls und auch im fraglichen Zeitraum noch häufig über den Trierer Erzbischof.
Die Erkenntnis mag nicht überraschen, aber die Klarheit und die Stringenz, mit denen Engl Entwicklungslinien und eine "Prozesshaftigkeit des Dialogs" (1) - Papstkontakte lothringischer Klöster etc. waren keine Einbahnstraße - aufzeigt, sind wohl die große Stärke dieser Monographie. Engl fasst diese Linien, siehe schon den Buchtitel, als "Rekonfigurationen", natürlich im Sinne gegenwärtiger historischer Forschung (Schneidmüller; Weinfurter) und nicht etwa EDV-technischen Vokabulars. Und seine Arbeit lässt keinen Zweifel daran, dass auf diesem Weg gerade in Lothringen, einer maßgeblich vom Klosterwesen geprägten Raumgröße, der "Prozess der Einwurzelung päpstlicher Autorität" (16) verlief.
Nach dieser Einführung, die über die genannten Punkte hinaus auch einen fundierten Überblick über den Forschungsstand bietet, beleuchtet Engl als "Hinführung" (20-26) kurz die 'Vorgeschichte', d.h. die Karolingerzeit. Mit Recht konstatiert er für die (später) lothringischen Gebiete Papstkontakte in dieser Epoche als "Ausnahmefälle" (26), da die religiösen Gemeinschaften den Bischof und den König bzw. Kaiser noch uneingeschränkt als Schutzmächte gesehen hätten.
Seine Analysen, Interpretationen und Wertungen im Untersuchungszeitraum, in dem sich bei fortschreitender Lektüre die Zeit des ausgehenden 11. und frühen 12. Jahrhunderts immer deutlicher als Schwerpunkt abzeichnet, baut Engl wie folgt auf: das erste Hauptkapitel "Funktionszuweisungen" (27-144) legt als tiefgehende, bereits mit zahlreichen Einzelaspekten versehene Chronologie in drei Teilen das Fundament, auf dem in den folgenden Kapiteln die Interaktionen zwischen den religiösen Gemeinschaften der drei Bistümer mit dem Papsttum untersucht werden können. Die Grundlinien der Entwicklung sind hier vor allem anhand der erhaltenen Papstprivilegien aufgezeigt; ebenso kenntnisreich und klar in der eigenen Positionierung werden Problemstellungen wie etwa 'lothringische Reform' oder die (zurecht bemängelte) starke Konzentration des Forschungsinteresses auf den 'Lothringer-Papst', Leo IX., diskutiert. Ein Beispiel für seine zumeist stringente Argumentation, überzeugende Interpretation und sein ausgewogenes Urteil mag die Analyse des Papstprivilegs Leos VII. 938 für Kloster Gorze (31-34) geben. Ausnahmen und Gegenläufe zu den von ihm gelegten bzw. aufgezeigten Linien, wie etwa im Fall von Saint-Dié das Ansinnen, über Papstkontakte den Einfluss des Diözesanbischofs zurückzudrängen, benennt und behandelt Engl mit gleicher Intensität. Die wesentlichen Befunde zu den drei Abschnitten überzeugen völlig: in der ersten Phase (ca. 930-1030), in der vor allem die bischöflich bestimmten Einrichtungen in Erscheinung traten, ging es um das Papsttum als weitere "Schutzinstanz" (45) gegen mögliche Ein- und Zugriffe des regionalen und lokalen Adels; in der zweiten (ca. 1049-1070), in der Lothringen eben mit Leo IX. "ein bedeutendes Stück näher an das Papsttum" (58) heranrückte, traten Klosterherren zu den Initiatoren von Papstkontakten hinzu; auch spielten persönliche Kontakte, der 'Heimvorteil' quasi, eine Rolle, was aber strukturell zu einer Verlagerung bzw. Erweiterung dahingehend führte, dass nun auch die Päpste initiativ wurden und insbesondere Inhalte der Privilegien (mit)bestimmten; in der dritten Phase (ca. 1073-1130) schließlich, für die Engl eine immense Tragweite der Forderungen 'gregorianischer Reform' für religiöse Gemeinschaften in Lothringen anhand von vier ausgewählten Kategorien (Wahl und Einsetzung der Vorsteher; Regelungen des Zusammenlebens; Ordinations- und Jurisdiktionsgewalt des Diözesanbischofs; Vogtei) aufweist, ist über eine rein quantitative Steigerung (z.B. Zahl der Papsturkunden) hinaus eine qualitative Verschiebung unverkennbar: das Papsttum wird in den drei lothringischen Diözesen "zentrale Orientierungsgröße und wichtiger Ordnungsfaktor für die dort ansässigen religiösen Gemeinschaften" (144).
Wenn man an dieser feinmaschigen Grundlegung überhaupt etwas kritisieren könnte, dann wäre dies allenfalls eine gewisse 'Urkundenlast', die weiteres Quellenmaterial gelegentlich etwas erdrückt.
Den systematisch-strukturellen Teil eröffnet Engl mit einer Untersuchung und Einordnung der Formen und Faktoren der interaktiven Papstkontakte (145-198). Bei den Wegen zur Erlangung von Papsturkunden weist er die Grundannahme von Michel Parisse zurück, lothringische Empfänger seien in Gruppen nach Rom gereist. Die Nähe, sprich: physische Präsenz in Lothringen, die sich nicht allein auf Leo IX. beschränkt, nutzten die Päpste auch, um den "Primat des Papstes auf der Ebene der Liturgie" (165) zum Ausdruck zu bringen - ein interessanter Aspekt, den Engl illustriert, der allerdings (eine der wenigen Stellen!) ob seiner Tragweite noch hätte näher beleuchtet werden können. Präsenz konnte wirksam auch delegiert werden, wie er an päpstlichen Beauftragten und Legaten in Lothringen und konkret an den beiden Exponenten Hermann von Metz und Richard von Albano exemplifiziert. Mit Recht konzentriert er sich auf die Frage nach den Handlungsspielräumen: Diese beiden 'Einheimischen' hätten einen breiteren gehabt als 'Fremde' - ob die Quellenlage hier freilich nicht ein gewisses Zerrbild spiegelt? Insgesamt wird man sich aber dem auch für die Formen und Faktoren erarbeiteten Gesamtbefund eines nachhaltigen Wandels, hin zu einer gesteigerten Wahrnehmung päpstlicher Autorität, anschließen können.
Zeitigte diese aber auch Folgen hinsichtlich der Papstkontakte und konkret in der Reichweite und Wirkung päpstlicher Entscheidungen? Diesem entscheidenden Fragekomplex geht Engl wiederum in Einzelaspekten (199-269) nach. Zum ersten mit einer Untersuchung der päpstlichen Immunitätsprivilegien, für die eine Ausbauentwicklung in drei Phasen festzustellen ist. Sodann für päpstliche Gerichtsprozesse, für die Engl ein einziges, freilich gut dokumentiertes Beispiel in extenso (mehr als 30 Seiten) behandelt, den Rechtsstreit zwischen den Regularkanonikern von Chaumousey und den Nonnen von Remiremont um eine Pfarrkirche: ein vermeintlich kleiner Anlass mit großer, gar nicht einmal unmittelbarer - die Äbtissin überging die päpstlichen Weisungen Paschalis' II. konstant - aber doch mittel- und längerfristiger Wirkung (Einflussnahme des Papsttums auf die Formation geistlicher Grundherrschaften). Längerfristige Wirkungen zeigten sich auch im Bereich lokaler Schriftlichkeit, wie Engl am Cartulaire B des Touler Domkapitels nachweist. Dieses Thema hatte er schon im Rahmen der 22es Journées Lotharingiennes in Esch-sur-Alzette im Herbst 2022 präsentiert, weshalb wohl die minutiöse Analyse als Exkurs gehalten ist, zumal es über den Endpunkt 1130 weit hinausreicht. Klar ist der Gesamtbefund zu den Folgen und Wirkungen: Auch hier führten die Forderungen und Leitbilder der 'gregorianischen Reform' zu entscheidenden Wandlungen.
So hält Engl zusammenfassend und mehr als überzeugend fest: "Langfristig konnte sich das Papsttum in Lothringen erst an der Wende zum 12. Jahrhundert etablieren" (272), wobei den religiösen Gemeinschaften in den drei lothringischen Diözesen ein "ganz entscheidende[r] Anteil am Prozess der langfristigen Einwurzelung päpstlicher Autorität" (ebendort) beizumessen ist.
Die üblichen technischen Teile stehen am Schluss: Ablichtungen von Archivalia, ein Säulendiagramm zu Papsturkunden und eine kartographische Verortung der Klöster und Stifte in den drei Diözesen, Abkürzungs- und Siglenverzeichnis, Register (Orts- und Personennamen) sowie ein Verzeichnis der (zitierten) Quellen und der Literatur. Dessen Umfang und Reichhaltigkeit - die Literatur allein umfasst 534 Titel - dokumentiert eindrucksvoll den sehr hohen Anspruch an Quantität und Qualität, den Engl an seine Arbeit gerichtet hat. Eine Arbeit, die Modell geben kann und (hoffentlich) wird für Vergleichsräume. Und es ist ein Glücksfall, dass Engl in seiner derzeitigen Beschäftigung mit der Fortführung über den, wie gesagt, ein wenig unglücklichen Zeitschnitt 1130 hinaus beauftragt ist: So wird die Vergleichsbasis für den Erkenntnisgewinn über die 'langfristige Einwurzelung päpstlicher Autorität' im lateinischen Westen über den lothringischen 'Übergangsraum' hinaus sicherlich noch solider.
Thomas Bauer