Uwe Danker / Astrid Schwabe: Die Volksgemeinschaft in der Region. Schleswig-Holstein und der Nationalsozialismus, Husum: Husum Druck- und Verlagsgesellschaft 2022, 559 S., ISBN 978-3-96717-007-8, EUR 49,95
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Bereits der erweiterte Titel "Volksgemeinschaft in der Region" und der doppelte Seitenumfang verweisen darauf, dass Uwe Danker und Astrid Schwabe ihr 2005 erschienenes Handbuch zur NS-Geschichte Schleswig-Holsteins [1] gründlich überarbeitet haben. In der Zeit seit der ersten Auflage hat sich die Forschung den Quellenbegriff Volksgemeinschaft als analytische Leitkategorie zu eigen gemacht. Er soll das Verhalten der Bevölkerung, Praktiken des Mitmachens und der Herrschaftsstabilisierung in einer Gesellschaftsgeschichte des 'Dritten Reiches' erklären helfen, wobei die Schuldabwehr der Nachkriegsdeutschen sowie vereinfachende Täter-Opfer-Zuschauer-Konstellationen in Frage gestellt werden. Was sich aus der fachwissenschaftlichen Debatte für die schulische und außerschulische Bildung gewinnen lässt, haben Uwe Danke und Astrid Schwabe bereits 2017 in einem Sammelband [2] diskutiert.
Das Handbuch soll neben der wissenschaftlichen Erschließung der regionalen NS-Geschichte zugleich ein Studien- und Lesebuch für Schülerinnen, Schüler und Geschichtslehrkräfte sein. 8000 Exemplare wurden in Klassensatzstärke weiterführenden Schulen zur Verfügung gestellt. Dieses Lernangebot füllt insofern eine Lücke, da die regionale Perspektive auf den Nationalsozialismus und Holocaust besonders in den geringen Schulbuchauflagen kleiner Bundesländer kaum berücksichtigt wird. Auch gehört es zu den wiederkehrenden Befunden geschichtsdidaktischer Schulbuchkritik, dass die Geschichte des Nationalsozialismus zwar didaktisch-methodisch aufbereitet ist, aber oft mit einem zeitlichen Verzug zum aktuellen Forschungsstand präsentiert wird. Schließlich kommt der lokal- und regionalgeschichtliche Zuschnitt dem Bedürfnis nach einem konkreten Sprechen über die NS-Diktatur entgegen. Aus der empirischen Unterrichtsforschung ist bekannt, dass das Konzept Volksgemeinschaft im Geschichtsunterricht ein ungesicherter und zu abstrakter Begriff ist, da Schülerinnen und Schüler aber auch viele Lehrkräfte den Nationalsozialismus in sehr allgemeinen und moralisierenden Formulierungen beschreiben, die wenig geeignet sind, die Komplexität von Gemeinschaftsbildung- und Gemeinschaftszerstörung, Ursachen und Lehren aus den NS-Verbrechen und Unterschiede der Diktatur zu Rechtsstaatlichkeit und pluraler Demokratie zu durchdringen.
Das populärwissenschaftlich gedachte Handbuch ist ähnlich wie ein Geschichtsschulbuch multimedial gestaltet, chronologisch und thematisch aufgebaut. Das erste Kapitel setzt mit der Zerstörung der parlamentarischen Demokratie ein, wobei die Weimarer Republik vornehmlich als Vorgeschichte des Nationalsozialismus erzählt wird. Auch wenn diese eingeschränkte Sicht auf das Scheitern der Weimarer Republik nur wenig gerecht wird, bleiben Danker und Schwabe dabei und plädieren dafür, eine "bunte, offene und spannende Geschichte" (24) von 1918 bis 1933 gesondert zu erzählen. Das zweite Kapitel gilt der gesellschaftlichen Etablierung der NS-Herrschaft, wobei die Praktiken der Gewaltausübung und die Unterdrückung des politischen Widerstands besonders betrachtet werden. Die Fiktion der NS-Volksgemeinschaft mit ihren inkludierenden und exkludierenden Folgen kommt ab dem dritten Kapitel in den Blick: Angebote der gesellschaftlichen Neuformierung sowie deren propagandistische Inszenierung werden der gesellschaftlichen Ausgrenzung und Verfolgung von Minderheiten und politischer Gegner gegenübergestellt. Im anschließenden vierten Kapitel wird dies in verschiedenen Bereichen weiter vertieft: in der Familie, in den Geschlechter- und Generationenbeziehungen, im Bildungsbereich, in der Wirtschaft, den Kirchen, in Kultur und Kunst. Mit der dänischen Minderheit und dem Friesentum finden zudem Spezifika Schleswig-Holsteins Beachtung. Das fünfte Kapitel beleuchtet den Kriegsalltag in der Region und das Kriegsende. Die Einbeziehung des Reichskommissariats Ostland erweitert den regionalen um einen sozialen Zugang, da es sich unter Gauleiter und Reichskommissar Hinrich Lohse um ein stark von Schleswig-Holsteinern getragenes Besatzungsregime handelte. Der NS-Nachgeschichte sind die abschließenden beiden Kapitel gewidmet, die die alliierte Besatzungszeit bis in die Gegenwart der regionalen Denkmal-, Museums- und Gedenkstättenlandschaft umspannen.
Überschaubare Teilkapitel, denen lokale und personalisierende Fallbeispiele zugeordnet sind, bieten Ausgangs- und Anknüpfungspunkte für eine Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus, der die Gesellschaft nicht nur diktatorisch-verführend von oben durchdrang, sondern den sich die Gesellschaft auch von unten partizipierend aneignete. So wird anhand von Biografien vorgeführt, dass mitbestimmt wurde, wer "Volksgenosse" sein durfte und wer als "Volksfremder" galt. Schleswig-Holstein dient dabei als "Spiegel des großen Ganzen und zugleich als Ort des Besonderen und spezifischer Entwicklungen" (19). Das betrifft insbesondere die Heroisierung des Ländlichen durch die fotografischen Inszenierungen eines Erntedankfestes oder der Landgewinnungsarbeiten am Adolf-Hitler-Koog. Anhand dieser und anderer Text- und Bildquellen aus lokalen Archiven wird die regionale Prägung durch die NS-Agrarpolitik und durch die Rüstungsindustrie in Kiel, Lübeck und Flensburg anschaulich.
Die historischen Quellen sollen dabei nicht als bloße Illustrationen dienen, sondern interpretierend verstanden werden. Allerdings ist das Bildwissen um die Fotografinnen und Fotografen, die zeitgenössische Verbreitung und die Überlieferungsgeschichte nur über das Abbildungsverzeichnis schwer zu erschließen. Zur besseren Orientierung und weiteren Vertiefung finden sich im Anhang außerdem eine Chronik, ein Literaturverzeichnis mit einer umfangreichen regionalhistorischen Auswahl, sowie einem Orts- und Personenregister.
Bereits die erste Auflage ist 2005 Schulen mit der Aussicht zur Verfügung gestellt worden, das Handbuch werde zu einem tieferen Verständnis des Nationalsozialismus im Geschichts- und Politikunterricht beitragen. Daher wäre es interessant, wie dieses ambitionierte Projekt, das neue Forschungsansätze mit historischem Lernen verbindet, angenommen wird. Eine empirisch angelegte Rezeptionsstudie könnte die Potenziale und Grenzen dieser Art von Wissenschaftsvermittlung freilegen und aufzeigen, wie ein solches Modellprojekt Schule machen kann.
Anmerkungen:
[1] Uwe Danker /Astrid Schwabe: Schleswig-Holstein und der Nationalsozialismus, Neumünster 2005.
[2] Uwe Danker/ Astrid Schwabe: Die NS-Volksgemeinschaft. Zeitgenössische Verheißung, analytisches Konzept und ein Schlüssel zum historischen Lernen? (= Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik; 13), Göttingen 2017.
Anke John