Rezension über:

Felix Schmidt: Die Einführung standardisierter Uhrzeiten in Deutschland. Zeit-Reformen zwischen Industrialisierung und Nationalstaatsbildung (= Perspektiven der Wirtschaftsgeschichte; Bd. 11), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2023, 313 S., 1 Farb-, 6 s/w-Abb., ISBN 978-3-515-13490-3, EUR 58,00
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Caroline Rothauge: Zeiten in Deutschland 1879-1919. Konzepte, Kodizes, Konflikte (= Geschichte der Technischen Kultur; Bd. 16), Paderborn: Brill / Ferdinand Schöningh 2023, XII + 577 S., 6 s/w-Abb., ISBN 978-3-506-79075-0, EUR 129,00
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Rezension von:
Wolfgang Elz
Gönnheim
Redaktionelle Betreuung:
Johannes Hürter im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Wolfgang Elz: Zu den Bedingungen und Bedeutungen von Zeit an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert (Rezension), in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 5 [15.05.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/05/38813.html


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Zu den Bedingungen und Bedeutungen von Zeit an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert

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Zeit, so erbringt eine einfache Recherche, spielt für viele Wissenschaften und deren Theorien eine Rolle, bis hin zur "Raumzeit" in Einsteins Relativitätstheorie. Für den Historiker und die Historikerin ist ihre Berücksichtigung eine Selbstverständlichkeit. Persönlich erleben sie alle Menschen, zumindest in der Variante Tag/Nacht, die ein natürliches Phänomen abbildet, nämlich den Lauf der Erde um die Sonne. Zeitmessung und damit die Uhrzeit sind dagegen eine kulturelle Sache und unterliegen somit auch der Setzung. In dieser Hinsicht haben über Jahrhunderte hinweg natürliche Zeit und gesetzte Zeit sich überlappt, so auch noch vor 200 Jahren. In den Orten und Regionen Deutschlands gab es Ortszeiten, die sich eben lokal oder allenfalls regional am Sonnenstand orientierten: Es war 12 Uhr, wenn die Sonne im Zenit stand. Diese unterschiedlichen Ortszeiten hatten im Postkutschenzeitalter keine größere Bedeutung: Fuhr man von Memel nach Aachen mit der Postkutsche, rechnete man die Zeitdauer in Tagen; dass sich die Uhrzeit als Ortszeit zwischen Abreise und Ankunft um etwa eine Stunde verschob, war weitgehend irrelevant und musste lediglich am Zielort durch Verstellen der Uhr korrigiert werden - so wie heute bei Reisen in manch benachbartes Zielland die Uhr um eine Stunde vor- oder zurückgedreht werden muss.

Nun sind im Abstand von wenigen Monaten zwei Qualifikationsschriften veröffentlicht worden, die sich mit den verschiedenen Bedingungen und Bedeutungen von Zeit in den Jahrzehnten vor und nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert befassen: Felix Schmidt untersucht in seiner Dissertation (Cotutelle Heidelberg/Paris) die Veränderungen, die sich im deutschen Zeitregime seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Endphase der Weimarer Republik hinein ereignet haben. Dies geschieht vor allem auf der Grundlage von Verwaltungsakten, aus denen sich aber in etlichen Fällen auch Meinungsbilder der Bevölkerung herauslesen lassen, und von Zeitungsartikeln. Caroline Rothauge verfolgt in ihrer Habilitationsschrift (Eichstätt-Ingolstadt) auf der Grundlage eines ähnlichen Quellenkorpus eine etwas breitere Perspektive, die zusätzlich den Gebrauch von Zeit, etwa als Arbeitszeit, behandelt.

Das Zeitalter der Postkutschen ging zu Ende; sie wurden seit der Mitte des 19. Jahrhunderts sukzessiv von der Eisenbahn abgelöst. Damit wurde eine genauere Koordinierung zwischen zwei Reisepunkten notwendig. Abfahrts- und Ankunftszeiten mussten vorhersehbar sein und durften nicht von Ortszeiten abhängig bleiben, wenn der Verkehr reibungslos funktionieren sollte. So gab die Eisenbahn den Anstoß für die erste größere Zeitreform, die etwa in England mit dem anfangs dichtesten europäischen Eisenbahnnetz bereits 1848 mit der Festlegung auf "Greenwich time" erfolgte. In einzelnen, vor allem süddeutschen Staaten wurde schon recht früh eine Landeszeit festgesetzt, die sich in der Regel nach der Ortszeit der Hauptstadt richtete. Die reichsweit einheitliche Zeitfestlegung erfolgte zunächst bei der Eisenbahn, und zwar 1891/92. Damit war der Missstand verringert, der einen Passagier bis dato bei einer Bahnfahrt beispielsweise rund um den Bodensee getroffen hatte, wenn mehrmals landesspezifische Ortszeiten zu beachten waren.

Das Vorpreschen der Eisenbahn führte zur Wiederbelebung der Diskussion um eine reichsweite amtliche und einheitliche Zeitrechnung. Zuvor waren bereits Entscheidungen gefallen, die deren Ausgestaltung nicht determinierten, aber den Weg wiesen: Auf einer internationalen Wissenschaftlerkonferenz wurde 1883 die geographische Länge von Greenwich als Nullmeridian vorgeschlagen, was 1884 in Washington von einer Konferenz übernommen wurde. Nach und nach schlossen sich die beteiligten Staaten dieser Entscheidung an; lediglich Frankreich opponierte noch und hielt bis 1911 an der "Paris-Zeit" fest, ließ sich dann aber durch die Kompensation der Erlangung des Zeitbüros für Paris beschwichtigen und für die "Greenwich-Zeit" vereinnahmen.

Damit war eine gewisse Vorentscheidung auch für Deutschland gefallen: Wenn man die Berechnung der beiden Erdhälften mit ihren je 180 Grad mathematisch herunterbrach, landete man für Deutschland und die Mitteleuropäische Zeit (MEZ) bei 15 Grad östlicher Länge - also bei Görlitz, das damals etwa in der Ost-West-Mitte des Deutschen Reiches lag, während es heute die östlichste Stadt Deutschlands ist. Was nun Handel und Industrie, aber auch das Militär forderten, nämlich eine einheitliche Zeitrechnung für Deutschland, trat nach heftigen Debatten in der Öffentlichkeit und im Reichstag zum 1. April 1893 mit der MEZ in Kraft. Die Argumente dafür und dagegen waren in den Monaten zuvor ausgetauscht worden, aber die aus der Sicht der Befürworter erwünschte Homogenität setzte sich schließlich im Gesetz durch. Ab diesem Zeitpunkt galt, dass alle öffentliche Zeitnahme und -anzeige dem entsprechenden Gesetz zu folgen hatte.

Aber im privaten Bereich dürfte so manche von der Uhrzeit unabhängige Aktivität von der Einführung der Normalzeit nicht betroffen gewesen sein. Allenfalls im Kontaktbereich von privatem zu öffentlichem Leben, also etwa in Bezug auf Arbeitsbeginn und -ende oder bei den Schulzeiten, musste nun die amtliche Zeit beachtet und mussten notfalls Anpassungen vorgenommen werden. Diese einschränkende Bemerkung gilt insbesondere für die Landwirtschaft, aus der auch vor der Verabschiedung des Gesetzes der heftigste Widerstand erfolgt war: Wie bei allen weiteren Zeitreformen blieb man hier eher obstinat und richtete sich bei seiner Arbeit unverändert nach der Sonnenzeit. Dies geschah schon alleine deswegen, weil beispielsweise im Westen Deutschlands ein zu früher Arbeitsbeginn vom Tau behindert worden wäre und ein zu frühes Ende der Arbeit wertvolles Tageslicht verschwendet hätte. Lediglich bei der Verschränkung mit einer nahegelegenen Stadt, etwa für die Milchablieferung und die entsprechenden Züge, musste man sich der neuen Zeit anpassen. Schmidt geht auf den Bereich der Landbevölkerung recht breit ein, während Rothauge darauf lediglich wenige Sätze verwendet und sich ansonsten nur mit der Arbeiterschaft und dem Beamtentum befasst, obwohl doch noch um 1900 die Zahl der in der Landwirtschaft Tätigen ungefähr derjenigen der anderweitig Beschäftigten gleichkam. Sie verschenkt damit auch einiges, was gerade für die von ihr behauptete relative Bedeutung der Zeitnormierung Belege geliefert hätte.

Die Ignoranz auf dem Land gegenüber der amtlichen Zeit galt insbesondere während der Sommerzeit, die 1916 durch das Vorwärtsdrehen der Uhr im Sommer um eine Stunde eingeführt wurde, damals - wie 1980 in der Bundesrepublik - mit dem nie eindeutig verifizierten Argument, man müsse und könne damit, gerade jetzt im Krieg, Energie sparen. Der Erste Weltkrieg warf auch eine neue Frage auf: Wie hält man es mit besetzten Gebieten (die von Schmidt betrachtet werden, von Rothauge nicht)? Für Belgien entschied die deutsche Besatzungsmacht, dort die Uhren um eine Stunde auf die deutsche Zeit zurückdrehen zu lassen - wogegen viele Belgier Renitenz zeigten, indem sie zwischen einer von ihnen praktizierten belgischen und einer deutschen Uhrzeit unterschieden. Ganz ähnlich geschah es den Deutschen, die nach dem Krieg im linksrheinischen und von Franzosen besetzten Gebiet lebten: Nun mussten sie nach der französischen Uhrzeit leben, die sich damals von der MEZ um eine Stunde unterschied. Besonders an diesen beiden Beispielen wird deutlich, dass die Weisung für eine bestimmte Uhrzeit auch eine Machtfrage sein kann, wie Schmidt betont.

Mit der Weimarer Reichsverfassung verschwand die Sommerzeit, wie die Nationalversammlung mit großer Mehrheit beschloss, gegen den Antrag der Regierung auf deren vorübergehende Fortführung, womit Kohlen eingespart werden sollten. Die Opposition in Teilen der Bevölkerung hatte schon zuvor nie aufgehört, und sie kam erneut vor allem aus Landwirtschaftskreisen. Schmidt lässt sich hier das treffende Zitat entgehen, das in den Protokollen der Nationalversammlung verzeichnet ist: "die Kühe machen die Sommerzeit eben nicht mit; und da sich die Kühe nicht nach uns richten, müssen wir uns nach den Kühen richten. (Heiterkeit.)" [1]. Die Sommerzeit war damit für Jahrzehnte erledigt.

Die letzte wesentliche Änderung, die Schmidt betrachtet (nicht mehr Rothauge, deren Studie 1919 endet), betrifft die Einführung der 24-Stunden-Zählung. Auch die Diskussion darüber war seit den 1880er Jahren immer wieder aufgeflammt; einzelne andere Staaten hatten sie für ihre Eisenbahnen schon eingeführt und sich damit die Kennung der Fahrtzeiten durch "vm.", "nm." oder "a.m. / p.m." für Vor- und Nachmittag erspart. 1926 schlug die Europäische Fahrplankonferenz vor, dass alle Länder für ihre Eisenbahnen diese 24-Stunden-Zählung einführen sollten. Auch nun setzten in Deutschland wieder Diskussionen ein, ob diese Eisenbahnzeit ebenso zur amtlichen Zählung genutzt werden solle, welche Folgen das habe (z.B. bei der vielleicht teuren Neugestaltung von Zifferblättern), ob dem Publikum die fehlerfreie Umrechnung gelinge, und ähnliches mehr. Schließlich setzte sich aber diese 24-Stunden-Zählung bis 1930 auch als amtliche Zeitzählung durch. So wundert sich heute keiner mehr, wenn in amtlicher wie privater Post, etwa bei Einladungen, die Uhrzeit für die Nachmittags- und Abendstunden nach dieser Zählung genannt wird - und gleichzeitig wird im rein privaten Gebrauch und in der Umgangssprache wohl von "drei Uhr" gesprochen, wenn die betreffende Nachmittagszeit gemeint ist, zumal wenn sich aus dem jeweiligen Kontext ergibt, dass nicht die Nachtzeit gemeint sein kann.

Alle diese Aspekte schildert Schmidt kenntnisreich und gut lesbar, wenn auch nicht völlig ohne Redundanz. Zusätzlich liefert er einige wenige Beispiele von Plänen, die sich nicht durchgesetzt haben, etwa die Einrichtung einer Weltzeit, wonach rund um den Globus eine einheitliche Zeit hätte eingeführt werden sollen. Wo er seine Aussagen in ein eher soziologisches Korsett presst, muss man nicht jeder Behauptung ohne Skepsis folgen: Es mag Wahres daran sein, dass die Macht des Staates und ein gemeinsames Nationalgefühl durch diese Vereinheitlichungsmaßnahmen zugenommen haben. Aber ob dies tatsächlich die Kompetenz des doch immer noch recht jungen Nationalstaates stärkte und "kollektives, synchrones Raum-Zeit-Erleben" schuf, wie Schmidt eher abstrakt vorbringt (122), mag dahingestellt bleiben: Bismarck, ansonsten ein reger Befürworter staatlicher Vereinheitlichungen, zeigte bis zum Ende seiner Kanzlerzeit daran kein Interesse. Dass die Einigung nach Innen in den Anfangsjahren des Deutschen Reiches ein starkes Motiv für Vereinheitlichungsmaßnahmen war, muss man als politische Motivation in der Uhrzeit-Frage nicht nachvollziehen: Schmidts gelegentliche Seitenblicke nach Frankreich und England zeigen, dass dort analoge Prozesse abliefen. Ob solche Ziele nicht nur in der Wirkung, sondern schon in der Intention der "Zeit-Macher" breit verankert waren, lässt sich also bezweifeln. Zudem muss berücksichtigt werden, dass sich - wenn auch unbedeutender werdende - gesellschaftliche Bereiche vor allem in dörflichen und landwirtschaftlichen Kontexten so mancher Maßnahme auch entziehen konnten; dort zeigt sich somit eher eine unzureichende Macht des Staates. Vielleicht ist es eher so, dass eine technische Neuerung Folgen zeitigt, wie Rothauge anklingen lässt, die bei ihrer Einrichtung nicht bedacht oder beabsichtigt waren; folglich klingt ihre Formulierung von "strukturelle[n] Sachzwänge[n]" (204) plausibler.

Rothauge betrachtet darüber hinaus in ihrer im Aufbau an sich eher kleinteiligen und gelegentlich auch etwas lakonischen Arbeit (etwa bei der Entstehung des Reichsgesetzes und seiner Debatte im Reichstag 1893) ausführlich die Auswirkungen auf Arbeitszeitfragen, beispielsweise die Einführung eines Acht-Stunden-Tages bei den Zeiss-Werken in Jena durch Ernst Abbe um die Jahrhundertwende. Ein anderes Thema ist die Frage der Mittagspause: Dies führt sie am Beispiel der mittleren Beamten in Frankfurt am Main sehr breit aus, wo sich die Debatte daran entzündete, ob man ohne Mittagspause durcharbeiten wolle und entsprechend früher Feierabend habe. Hier schildert sie sehr detailliert die Pro- und Contra-Argumentation und kann zeigen, welche konträren Argumente angeführt wurden.

Zeit-Geschichte ist also offenbar ein fruchtbares Thema, wie beide Bücher zeigen. Der Aussage von Rothauge in Anlehnung an andere, daraus sofort einen "temporal turn" (14) zu postulieren, darf der Rezensent mit leichter Skepsis gegenüber den vielen Turns der letzten Jahre begegnen und ihn dazu verleiten, Pete Seegers "Turn, turn, turn" [2] zu summen.

Ob in die Frage der heutzutage wechselnden Winter- und Sommerzeiten, die zuletzt 2018 breit diskutiert wurde, noch einmal Bewegung gerät, mag bezweifelt werden. Eine überwältigende Mehrheit sprach sich in jenem Jahr bei einer Online-Umfrage der Europäischen Union (EU) für die Abschaffung aus (wie auch in beiden Arbeiten erwähnt wird). Mit Abstand am größten war die Beteiligung aus Deutschland. Man könnte daraus den Schluss ziehen, dass das Thema viele Menschen bewegt, und entsprechend kommentierte es Kommissionschef Juncker: "Die Menschen wollen das, wir machen das", wie Schmidt zitiert (11). Aber wie das bei statistischen Quellen so ist: Politiker und erst recht Historiker und Historikerinnen müssen stets genauer hinschauen. Mit rund 4,6 Millionen Abstimmenden beteiligte sich gerade mal gut ein Prozent der EU-Bevölkerung an der Abstimmung. Ein ganz brennendes Problem scheint die Frage jedenfalls derzeit in Europa nicht zu sein.


Anmerkungen:

[1] Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Bd. 327. Stenographische Berichte. Von der 27. Sitzung am 13. März bis zur 52. Sitzung am 9. Juli 1919. Berlin 1920, 972.

[2] Vgl. z.B. https://www.youtube.com/watch?v=CCAM3D2bYOQ [Aufruf: 31.1.2024].

Wolfgang Elz