Rezension über:

Egon Krenz: Gestaltung und Veränderung. Erinnerungen, Berlin: edition ost 2023, 448 S., 47 s/w-Abb., ISBN 978-3-360-02811-2, EUR 26,00
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Rezension von:
Andreas Malycha
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Malycha: Rezension von: Egon Krenz: Gestaltung und Veränderung. Erinnerungen, Berlin: edition ost 2023, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 6 [15.06.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/06/38923.html


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Egon Krenz: Gestaltung und Veränderung

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Im zweiten Band seiner Memoiren schildert Egon Krenz persönliche Eindrücke aus dem inneren Führungskreis der SED in den Jahren von 1974 bis 1988. In dieser Zeit stieg er vom Chef der Freien Deutschen Jugend (FDJ) in die oberste Führungsriege der SED auf und avancierte schließlich zum potenziellen Nachfolger Erich Honeckers. In den 1970er und 1980er Jahren verursachten gleichzeitig die stagnierende Wirtschaftskraft, die stetig steigenden Ausgaben für die sozialen Wohltaten sowie eine erhebliche Verteuerung und Kürzung der lebensnotwendigen Erdöllieferungen aus der Sowjetunion eine ernste Wirtschafts- und Versorgungskrise. Anfang der 1980er Jahre war Honeckers Wirtschafts- und Sozialprogramm praktisch gescheitert. Daher hätte der interessierte Leser einige Insider-Erkenntnisse erwartet, ob und wie der innere SED-Zirkel die heraufziehende Krise wahrnahm und, wenn ja, welche Strategien zu deren Bewältigung dort diskutiert wurden. Denn schließlich war Krenz seit 1976 Kandidat und seit 1983 Mitglied des Politbüros sowie Sekretär des Zentralkomitees.

Auf die Fragen nach Krisenwahrnehmung und Krisenbewältigung gibt Krenz in seinen Erinnerungen leider keine überzeugenden Antworten. Es scheint in seiner Schilderung fast so, als habe sich die DDR nach der diplomatischen Anerkennung durch westliche Staaten kontinuierlich zu einer leistungsstarken Industrienation und einem weltweit bewunderten Sozialstaat entwickelt, der im Herbst 1989 ganz plötzlich vor dem Kollaps stand. Schuld daran trägt aus seiner Sicht in erster Linie der sowjetische Partei- und Staatschef Michail Gorbatschow, der die DDR unter Aufkündigung der Bündnistreue schmählich im Stich gelassen habe. Gorbatschow und seine Reformpolitik sind auch der Dreh- und Angelpunkt bei seiner Suche nach den Ursachen für das Scheitern der SED. Wiederholt bringt Krenz seine tiefe Enttäuschung darüber zum Ausdruck, dass Gorbatschow sich lieber dem Westen zugewandt habe, statt den Sozialismus in der DDR stabilisieren zu helfen. Auch persönlich rechnet er mehrfach mit Gorbatschow ab: "Er war offensichtlich für seine hohe Funktion weder politisch, moralisch noch charakterlich befähigt. Seine Eitelkeit hob ihn von der Realität ab" (308).

Es waren jedoch ökonomische Missstände und die Unzulänglichkeiten der zentralstaatlichen Planwirtschaft, die zu einem raschen zunehmenden wirtschaftlichen Verfall und drohender Zahlungsunfähigkeit gegenüber westlichen Gläubigern führten, sodass die DDR schließlich in ihre finale Existenzkrise stürzte. Krenz kann sich zu diesem Eingeständnis nicht durchringen, obgleich er auf die Entscheidungen im Politbüro nicht unkritisch zurückblickt. Einwände gegen Honeckers Kurs der Stabilisierung politischer Herrschaft durch soziale Leistungen gab es intern bereits seit Ende der 1970er Jahre. Sie wurden vom Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission Gerhard Schürer mit dem Argument begründet, dass der dazu erforderliche materielle und finanzielle Aufwand die Wirtschaft überfordere und somit die mittel- und langfristige Stabilität der DDR untergrabe. Unter den führenden SED-Wirtschaftsfunktionären wuchsen seit den 1980er Jahren die Sorgen vor dem drohenden wirtschaftlichen Zusammenbruch der DDR. Krenz erwähnt die kritischen Stimmen aus der zentralen Planungsbehörde in seinen Erinnerungen mit keinem Wort. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht sein Hinweis auf jene Wissenschaftler, die ihn in Vorbereitung des für April 1986 geplanten XI. SED-Parteitages über die Wirtschaftslage informierten. Planungschef Schürer, Kandidat des Politbüros und ständiger Kritiker von Honeckers Wirtschaftskurs, fehlt in seiner Aufzählung.

Einen weiteren Schwerpunkt seiner Erinnerungen bilden Episoden über sein persönliches Verhältnis zu Parteichef Honecker. In diesen anekdotischen Passagen bietet die Autobiografie aufschlussreiche Erkenntnisse über Honeckers zunehmende Kritik an der sowjetischen Führung, die er jedoch nur im internen Kreis geäußert habe. Demnach hatte Honecker im März 1985 offenbar noch eine hohe Meinung von Gorbatschow. Doch bereits 1986 betrachtete Honecker die sowjetischen Reformexperimente mit ungesichertem Ausgang als ungeeignet und gefährlich. Darüber hinaus machte ein Treffen zwischen dem KPdSU-Chef und Honecker im Oktober 1986 sichtbar, wie sehr Honeckers Abneigung gegen das sowjetische Reformprojekt inzwischen in offene Feindschaft gegen Gorbatschow umgeschlagen war. Stattdessen, so erinnert sich Krenz, habe Honecker den Kontakt mit westdeutschen Politikern und Unternehmern wie Franz Josef Strauß, Berthold Beitz oder Otto Wolff von Amerongen gesucht.

Die Erinnerungen von Krenz verdeutlichen, in welchem Ausmaß sich das SED-Politbüro der Sowjetunion in den 1980er Jahren wirtschaftspolitisch überlegen fühlte. Ost-Berlin schrieb der konsumorientierten Wirtschaftspolitik Honeckers tatsächlich eine Vorbildrolle für die Sowjetunion und die Länder Osteuropas zu. Honecker selbst trat dementsprechend nicht nur in der parteiinternen Diskussion, sondern auch in den öffentlichen Verlautbarungen, ja sogar in den Gesprächen mit Gorbatschow in dieser Weise auf. Krenz betrachtet dies in seiner persönlichen Rückschau als einen Fehler: "Hochmut kommt eben vor dem Fall" (315).

Tiefere Einblicke in den Zirkel der Mächtigen in Partei und Staat sowie deren politische Intentionen bietet Krenz in seiner Autobiografie insgesamt nicht. Seinen Schilderungen zufolge sah niemand im Politbüro die heraufziehende Gesellschaftskrise. Die in der Forschung mittlerweile gut dokumentierten Kontroversen über die konsumorientierte Wirtschaftspolitik Honeckers in der engeren SED-Führung beweisen jedoch, dass im Politbüro die Funktionsmängel der zentralstaatlichen Wirtschaftsplanung bekannt waren und daraus resultierende Wirtschaftsprobleme wiederholt thematisiert wurden. Es ist ein inzwischen widerlegter Irrglaube, dass es im SED-Politbüro unter Honecker keine Kenntnisse über die rasante Talfahrt der gesamten Wirtschaft einschließlich der zunehmenden Devisenverschuldung gegeben habe. Planungschef Schürer hatte im Politbüro wiederholt einen Abbau konsumorientierter Subventionen und ein Umsteuern der Investitionen zugunsten des produktiven Bereichs gefordert. Honecker und die Politbüromehrheit hielten dennoch bis zuletzt an der exzessiven Sozialpolitik als eine der tragenden Säulen der SED-Herrschaft fest. Sozialpolitik als Mittel der Stabilisierung der SED-Herrschaft war zwar Anfang der 1970er Jahre kurzfristig erfolgreich. Diese Politik verhinderte jedoch wirtschaftliche Dynamik und verminderte die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der DDR. Der von Honecker am Ende der 1980er Jahre unternommene Versuch, mit intensivierten deutsch-deutschen Handelsbeziehungen der DDR das ökonomische Überleben zu sichern, scheiterte nicht nur am ökonomischen Ungleichgewicht der Handelspartner, sondern insbesondere am völligen Zusammenbruch der politischen Legitimität der SED-Herrschaft. Diese Einsicht sucht man in der Autobiografie von Egon Krenz allerdings vergebens.

Andreas Malycha