Jürgen Dinkel: Alles bleibt in der Familie. Erbe und Eigentum in Deutschland, Russland und den USA seit dem 19. Jahrhundert (= Industrielle Welt. Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte; Bd. 104), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2023, 482 S., ISBN 978-3-412-52893-5, EUR 65,00
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Die Historiker haben um das Feld des Erbens und Vererbens in modernen Gesellschaften lange Zeit einen großen Bogen gemacht. Die Gründe liegen keineswegs auf der Hand, es sei denn, man zieht die alltagsweltliche Abneigung heran, über das heikle Thema überhaupt öffentlich sprechen zu wollen. Die wissenschaftliche Relevanz widerspricht seiner weitgehenden Ignorierung durch die Geschichtswissenschaft: Denn mit der Durchsetzung einer Gesellschaftsordnung, in deren Mittelpunkt die "bürgerliche Familie" und eines auf sie zugeschnittenen Bürgerlichen Gesetzbuches stand, nahmen Erbordnung und Erbpraktiken die zentralen Schnittstellen ein: von generationenübergreifenden ökonomischen Transaktionen und damit verbundenen Sicherungen von Eigentumsordnungen über individuelle Tode hinaus, von Strategien familiärer Solidarität wie autoritärer Kontrolle sowie von immer erneuten Ausbalancierungen des Anspruchs von Kollektiven und Staaten auf den privaten Eigentumsraum von Familien.
Jürgen Dinkels große, als Habilitation entstandene Studie geht konzeptionell wie empirisch all diesen Facetten des Feldes nach. Er kann sich dabei eher auf rechtswissenschaftliche und soziologische als geschichtswissenschaftliche Vorarbeiten stützen. Dinkels Anspruch ist nicht, der Gegenwart Rezepte in der Erbfrage auszustellen, wie es etwa politökonomische Studien à la Thomas Piketty wollen. Dennoch bleibt eine zentrale Erkenntnis aus Dinkels Buch unmittelbar hängen, dass nämlich allen politischen Systemwechseln im 20. Jahrhundert zum Trotz, allen gesellschaftspolitischen Theorien und finanzstaatlichen Begierden zum Trotz die Familienangehörigen nach dem Willen der Erlasser/innen die Empfänger ihres Nachlasses sein sollten. Um diese große These zu entwickeln, öffnet Dinkel einen Beobachtungsraum von der Sowjetunion über Deutschland in die USA über etwa ein Jahrhundert. Diese drei Staaten gelten ihm als unterschiedliche Modellfälle staatlichen Handelns, unterteilt in kürzere Perioden wechselnder staatlicher Prioritäten in der Erbfrage. Dem kann hier nicht im Einzelnen nachgegangen werden, doch die Lektüre bietet auch einem etwas vertrauteren Leser immer wieder Überraschungen. Die dichten Darstellungen dieser Teile des Buches lassen sich am ehesten unter der Chiffre Erbordnungen fassen; wie kommunale und staatliche Akteure im Zuge von Rechtsreformen und Rechtsvereinheitlichung zur Gesellschaftsgestaltung, wie erwerbsmäßige Agenten als private Dienstleister in der Ratgeberszene, im Anwaltsgeschehen und in der Erbennachforschung tätig wurden, das kann Dinkel bis in einen so unausgeleuchteten Bereich wie den der transnationalen Erbtransfers seit dem Ende des Ersten Weltkrieges bis nah in die Gegenwart beschreiben.
Eine besondere Aufmerksamkeit meiner Lektüre galt der Untermauerung seiner Leitthese zur Permanenz des Familienbezugs. Der Autor erweitert die nationalen Schauplätze seiner Darstellung dazu um drei ausgewählte Stadtbeispiele, Odessa für die Sowjetunion bzw. die Ukraine, Frankfurt am Main für Deutschland und Baltimore für die USA. Diese Auswahl hatte vermutlich spezifische Quellengründe (die ich gerne näher erläutert gehabt hätte), auf jeden Fall ermöglicht sie die Annäherung an die Ebene der Praktiken aller Akteure im Erbgeschehen bis hinunter auf den einzelnen Fall. Sofern er sich in amtlichen Bekundungen niedergeschlagen hat. Das ist schon im städtischen Einzelfall sehr differierend, aber wichtiger ist, dass damit alle nicht amtlich oder anwaltlich erfassten Fälle systematisch von der historischen Analyse ausgeschlossen sind. Dinkels Schlussfolgerung daraus ist von großer Tragweite für die Analyse, denn aus der Masse unerschließbarer Fälle folgert er, dass in weit überwiegenden Fällen die Erbbeteiligten das Geschehen unter sich regelten, Erbordnungen und Testamente hin oder her. In vielen Einzelbeobachtungen, die sich ergänzen ohne quantifizierenden methodologischen Ansprüchen genügen zu wollen, verstärkt Dinkel einen neuen Blick auf eine sich in der Regel in einen Konsens mündende Erbschaftsaushandlung. Das gilt selbst im Prozess einer Ausdifferenzierung von Familienmodellen in jüngerer Zeit. Um ein unerwartetes Beispiel zu nennen: Dinkel lässt die emotionalen Hürden erkennbar werden, die sich möglichen Erben stellten, eine verschuldete Erbschaft eines vertrauten Familienangehörigen auszuschlagen, statt für sie zu haften.
"Die Gesellschaften des 20. und 21. Jahrhunderts waren und sind keine reinen Leistungsgesellschaften und keine Gesellschaften der Singularitäten, sondern im Kern Erben- und Familiengesellschaften" (403), das ist die überwölbende Schlussthese aus Dinkels Staaten, politische Systeme und Großstädte vergleichenden Untersuchungen. Damit stellt er sich frontal gegen Andreas Reckwitz soziologische Deutung der Moderne als Entwicklung zu einer 'Gesellschaft der Singularitäten', die besagt, dass das Streben nach Einzigartigkeit, eben Singularität, zum hervorstechenden Merkmal der neuesten Gesellschaftsentwicklung geworden sei. Dinkels historische Perspektive setzt dem bei allen Veränderungen in der Zusammensetzung der Familie ihre erneute Stärkung im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts entgegen, deren anhaltende Attraktion in der innerfamilialen Erwartungssicherheit für zukünftiges Handeln beruhe. Für die Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts kann man die Bedeutung solch divergierender Deutungen kaum überschätzen. Dinkels Buch bietet eine grundlegende und neuartige Basis dafür.
Clemens Wischermann