Rezension über:

François Guesnet / Jerzy Tomaszewski (eds.): Sources on Jewish Self-Government in the Polish Lands from Its Inception to the Present, Leiden / Boston: Brill 2022, XXXi + 694 S., ISBN 978-90-04-19136-5, EUR 300,67
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Rezension von:
Jürgen Heyde
Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Jürgen Heyde: Rezension von: François Guesnet / Jerzy Tomaszewski (eds.): Sources on Jewish Self-Government in the Polish Lands from Its Inception to the Present, Leiden / Boston: Brill 2022, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 6 [15.06.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/06/39282.html


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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

François Guesnet / Jerzy Tomaszewski (eds.): Sources on Jewish Self-Government in the Polish Lands from Its Inception to the Present

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Die mit knapp 350 Dokumenten aus dem 11. bis 21. Jahrhundert groß angelegte Quellensammlung geht auf eine Anregung von Artur Makowski und Marcin Soboń zurück und ist in Zusammenarbeit polnischer, israelischer, amerikanischer und deutscher Historikerinnen und Historiker entstanden. Im Titel ist von "Polish Lands" die Rede, doch vom Mittelalter bis zum Ende der Teilungszeit ist immer ein klares Bemühen zu erkennen, auch die Gebiete des Großfürstentums Litauen mehr als nur randständig mit einzubeziehen. Lediglich die Kapitel zum 20. Jahrhundert konzentrieren sich dann auf das jeweilige Staatsgebiet der II. Republik beziehungsweise der Volksrepublik und der III. Republik Polen.

Zehn chronologisch und zum Teil regional differenzierte Kapitel enthalten jeweils eine Einführung zum Forschungsstand und zu den wichtigsten Charakteristika der Epoche sowie eine Auswahl von 20-48 Dokumenten, die zum großen Teil erstmals in englischer Sprache zugänglich gemacht werden. Ihnen liegen Texte in hebräischer, jiddischer, lateinischer, polnischer, mittel- und neuhochdeutscher Sprache zugrunde, die eine große Bandbreite von Perspektiven auf die jüdische Geschichte eröffnen. Abgeschlossen wird der Band durch ein kurzes Glossar zu häufig verwendeten Fachbegriffen sowie ein Register, welches die Einführungstexte und die jeweilige Kopfregesten erfasst, nicht aber den Inhalt der einzelnen Dokumente. Als Manko erscheint allerdings, dass der Verlag darauf verzichtet hat, ein Verzeichnis der einzelnen Dokumente anzulegen, was eine schnelle Orientierung über das Material unnötig erschwert. Das kann man, wie die Einleitung (XVI) vorschlägt, auch als Einladung zum Stöbern und Schmökern sehen, doch ist angesichts des Ladenpreises nicht wirklich zu erwarten, dass das Buch häufig als Lektüre auf dem Nachttisch zu finden sein wird.

Inhaltlich nimmt die Periode der Teilungen Polen-Litauens zwischen 1772 und dem Ersten Weltkrieg mit fünf Kapiteln und circa 340 Seiten ziemlich genau die Hälfte des Bandes ein, gefolgt von den drei Kapiteln zum langen 20. Jahrhundert (1914-2010). Die Zeit der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg wurde dabei aus der Chronologie herausgenommen und als Epilog hinter die Nachkriegszeit geschoben. Damit gehen die Herausgeber und Bearbeiter auf den besonderen Charakter jener von Terror und Vernichtung geprägten Epoche ein, sie reflektieren aber auch die jüngste Forschung zu diesem Thema, die trotz aller Entrechtung ganz bewusst auch nach jüdischer agency fragt (vergleiche auch die Einleitung, XV).

Diese Problematisierung verweist auf die durchgängig in allen Kapiteln leitende Fragestellung nach dem Wesen und den Potenzialen jüdischer Selbstverwaltung. In seinem Einleitungstext zur Frühen Neuzeit unterstreicht Adam Teller das Diktum der Herausgeber von Selbstverwaltung als verflochtenem Prozess (XII, XXX folgend). Teller arbeitet überzeugend heraus, dass sich die Geschichte der Selbstverwaltung in der Frühen Neuzeit nur als enge Verflechtung jüdischer und nichtjüdischer Akteur:innen und Institutionen verstehen lässt (62). Dies gilt mutatis mutandis auch für die späteren Epochen, wobei die seit der Teilungszeit zunehmend spürbaren staatlichen Eingriffe die Herausbildung eines Begriffs von Autonomie beförderten, der im 20. Jahrhundert die Entflechtung der verschiedenen Ebenen zum Ideal erklärte. Konsequent werden in allen Kapiteln unterschiedliche Perspektiven auf die Selbstverwaltung erschlossen. Die jüdische Bevölkerung wird damit durchgängig als in der nichtjüdischen Umwelt verankert und mit eigenem Handlungspotential greifbar.

Im Mittelalter-Kapitel finden sich nichtjüdische, in den polnischen Ländern entstandene Dokumente, darunter die wesentlichen Rechtstexte, neben innerjüdischen Quellen, die zum Teil von oder für Beobachter aus und in anderen Teilen Europas geschrieben wurden. Damit wird in dieser "quellenarmen" Zeit auch die regionale Verfechtung des aschkenasischen Judentums in seinen unterschiedlichen Dimensionen nachvollziehbar gemacht. Der Abschnitt zur Frühen Neuzeit stellt dann die gemeindliche und übergemeindliche Organisation der Selbstverwaltung ins Zentrum. Dabei werden die Rollen von Gemeindeältesten (Kahal) und Rabbinern vor Ort und in den überregionalen Versammlungen (Vaad Arba Aratsot, Vaad Medinat Lita) in ihren Verbindungen untereinander sowie mit nichtjüdischen Obrigkeiten greifbar.

Die letzten Jahrzehnte der Rzeczpospolita und die frühe Teilungszeit zwischen 1772 und 1815 wurden in ein eigenes Kapitel gefasst. Damit rücken die Reformkonzepte des polnisch-litauischen Vierjährigen Reichstags und im Herzogtum Warschau 1806-1815 in einen greifbaren Kontext mit den ersten Interaktionen der Teilungsmächte mit der jüdischen Bevölkerung in den annektierten Gebieten. Für den Zeitraum 1815-1914 sind vier Kapitel zu den verschiedenen Teilungsgebieten angelegt, wobei dem preußischen (Provinz Posen) und dem österreichischen (Galizien) Gebiet je ein Kapitel gewidmet ist. Der russländische Herrschaftsbereich ist aufgeteilt in ein Kapitel zum Königreich Polen ("Kongresspolen") und eines zu den "Nordwest- und Südwestgebieten", jenen Teilen vor allem des ehemaligen Großfürstentums Litauen, welche direkt ins Russländische Reich eingegliedert worden waren und die mit den ehemals osmanischen Gebieten im Süden den "jüdischen Ansiedlungsrayon" bildeten.

Der Erste Weltkrieg erscheint dabei nicht als Schlusspunkt der imperialen Teilungszeit, sondern als Auftakt zur jüdischen Geschichte in der 1918 wieder gegründeten Polnischen Republik. Dies ist insofern eine glückliche Wahl, als die Auswahl der Dokumente veranschaulicht, dass das Zusammenwachsen der ehemaligen Teilungsgebiete auch für die jüdische Bevölkerung ein Prozess war, der sich bis weit in die 1920er Jahre hinzog. Die jüdischen Gemeinden sahen sich zudem den weit auseinanderstrebenden politisch-gesellschaftlichen Konzeptionen jüdischer Vereinigungen und Organisationen ausgesetzt und mussten vor allem seit den 1930er Jahren in einem zunehmend feindlichen nichtjüdischen Umfeld operieren.

Das neunte Kapitel macht zeitlich einen Sprung und ist der jüngsten Geschichte der jüdischen Bevölkerung in der Zeit der Volksrepublik und der III. Republik, von 1944 bis 2020 (nominell - das jüngste Dokument stammt aus dem Jahr 2010) gewidmet. Der Einführungstext unterscheidet in diesem Zeitraum mehrere Unterperioden: den Wiederaufbau jüdischen Lebens nach dem Holocaust, die Jahre des Stalinismus 1950-1956, vom "Tauwetter" 1956 bis zur antisemitischen Kampagne 1968, die Periode bis zum Ende der Volksrepublik und den erneuten Aufschwung jüdischen gemeindlichen und kulturellen Lebens in der Zeit des postkommunistischen Polens.

Als Epilog schließt sich Kapitel 10 an, das der Epoche der deutschen Besatzung und der Ermordung der polnischen Jüdinnen und Juden 1939 bis 1945 gewidmet ist. Kann es in der Zeit des systematischen Terrors und der planmäßigen Vernichtung eine Reflexion über "jüdische Selbstverwaltung" geben? Die in diesem Kapitel zusammengetragenen Texte dokumentieren die Instrumentalisierung jüdischer Selbstverwaltung durch die deutschen Besatzer ebenso wie das verzweifelte Bemühen der Judenräte und anderer jüdischer Einrichtungen, bestmöglich zu organisieren, was an Leben noch möglich war.

Mit seinen informativen Einführungsabschnitten und der durchgängigen Berücksichtigung von Quellen innerjüdischer wie nichtjüdischer Provenienz sowie mit einer Dokumentenauswahl, die sich - durchweg erfolgreich - bemüht, die vielfältigen Aspekte jüdischer Selbstverwaltung in den polnisch-litauischen Ländern vorzustellen, bietet die Quellensammlung eine wichtige Bereicherung vor allem für die akademische Lehre. Neben der inhaltlichen Breite der Quellen und den konzisen Forschungsüberblicken ist vor allem der verflechtungsgeschichtliche Ansatz hervorzuheben, der dazu beiträgt, das Diktum von Jakub Goldberg (1924-2011) zu unterstreichen, dem das Buch gewidmet ist: "There is no history of Poland without the history of the Jews, and no history of the Jews without the history of Poland". [1]


Anmerkung:

[1] Jacob Goldberg: On the Study of Polish-Jewish History. A Speech Delivered on the Occasion of His Being Awarded the Title of Doctor Honoris Causa by the University of Warsaw, January 1993, in: Studies in the History of the Jews in Old Poland. In Honor of Jacob Goldberg, ed. by Adam Teller, Jerusalem 1998, 9-13, hier 9.

Jürgen Heyde