Rezension über:

Wiebke Lisner / Johannes Hürter / Cornelia Rauh / Lu Seegers (Hgg.): Familientrennungen im nationalsozialistischen Krieg. Erfahrungen und Praktiken in Deutschland und im besetzten Europa 1939-1945 (= Das Private im Nationalsozialismus; Bd. 5), Göttingen: Wallstein 2022, 379 S., ISBN 978-3-8353-5202-5, EUR 34,00
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Rezension von:
Moritz Föllmer
Universiteit van Amsterdam
Redaktionelle Betreuung:
Paul Blickle
Empfohlene Zitierweise:
Moritz Föllmer: Rezension von: Wiebke Lisner / Johannes Hürter / Cornelia Rauh / Lu Seegers (Hgg.): Familientrennungen im nationalsozialistischen Krieg. Erfahrungen und Praktiken in Deutschland und im besetzten Europa 1939-1945, Göttingen: Wallstein 2022, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 7/8 [15.07.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/07/37150.html


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Wiebke Lisner / Johannes Hürter / Cornelia Rauh / Lu Seegers (Hgg.): Familientrennungen im nationalsozialistischen Krieg

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Innerhalb weniger Jahre bewirkte das nationalsozialistische Regime eine weitreichende, wenn auch nur teilweise intendierte Transformation der europäischen Gesellschaften. Zu den schwerwiegenden Auswirkungen von Krieg, Besatzung und Deportation zählten unzählige Trennungen zwischen Familienangehörigen, die jedoch je nach dem Rang der Betroffenen in einer rassistisch und antisemitisch definierten Wertehierarchie Verschiedenes bedeuteten. Der im Kontext eines größeren Projektes zum Privaten im Nationalsozialismus entstandene Sammelband nimmt somit eine präzise und konkrete, gleichzeitig weit ausgreifende Perspektive ein. Er verbindet gleich drei Trends, die seit den 1990er Jahren die Forschung zur nationalsozialistischen Herrschaft bestimmt haben: erstens die mindestens gleichgewichtige Einbeziehung der Kriegsjahre, zweitens die Thematisierung der europäischen Dimension und drittens das Interesse an Privatheit und Subjektivität. Wie die Herausgeber*innen einleitend betonen, bildeten Familien zwar "eine Art Kraftreserve zur Mobilisierung der 'Volksgemeinschaft', waren dabei jedoch "keineswegs nur Objekte", sondern reagierten aktiv "auf Zugriffe und Steuerversuche des NS-Regimes" (19, 13).

So sehr es auch denjenigen Deutschen, die keiner der verfolgten Gruppen angehörten, Opferleistungen abverlangte, bemühte sich das Regime doch um wesentliche Erleichterungen, die allerdings stets der volksgemeinschaftlichen Leistungssteigerung zu dienen hatten. Das wirkte sich auf die Balance zwischen individueller Selbstverwirklichung und familiärem Zusammenhalt aus. Annemone Christians zeigt, dass der Krieg als "Scheidungskatalysator" wirken konnte. Der Status als Soldat und die Priorität auf der Reproduktion erleichterte es Männern in vielen Fällen, die gewünschte Auflösung ihrer Ehe vor Gericht durchzusetzen. Waren die Beziehungen nicht derart zerrüttet, kam ihnen dagegen ein funktionaler Wert zu, wie Christian Packheiser darlegt. Denn Erfahrung und Erwartung des recht großzügig gewährten Heimaturlaubs sollten die Ehemänner zum Durchhalten motivieren, Entfremdungserscheinungen kompensieren und die Zeugung von Kindern begünstigen. Intensive propagandistische Bemühungen flankierten dieses politische Interesse, wobei der Ton oft verständnisvoll ausfiel. Das ermöglichte eine gewisse Kontinuität des Ratgebergenres, die Lu Seegers am Beispiel Walther von Hollanders herausarbeitet. Der spätere Hör zu!-Autor publizierte unterhaltsame Betrachtungen zu zwischenmenschlichen Problemen. Den Kontext von Krieg und Nationalsozialismus deutete Hollander eher an als ihn zu thematisieren, und in zahlreichen Briefen an Ratsuchende trat er als neutraler Anwalt familiärer Harmonie auf.

Durchaus im Sinne der Propaganda konnte das Familienleben die kriegsbedingten Anstrengungen kompensieren - selbst dann, wenn es vor allem im Modus der Korrespondenz stattfand. Katerina Piro zeigt, wie ein einzelnes Ehepaar über den geeigneten Zeitpunkt zur Zeugung kommunizierte und sich über das gemeinsame Projekt des Wunschkindes der eigenen Beziehung vergewisserte. Die Ambivalenz der Trennungserfahrungen, welche aus dem Militärdienst von Vätern oder älteren Brüdern resultierten, betont der Beitrag von Kathrin Kiefer und Markus Raasch. Aus zeitgenössischen Briefen und Oral History-Interviews geht hervor, dass Kinder und Jugendliche früh emotionale und praktische Verantwortung übernahmen, aber oft auch die eigene Überforderung und - zurückhaltender - emotionale Distanz zu den Eltern artikulierten.

Infolge des Bombenkrieges musste zwar millionenfach der Wohnort zeitweilig verlassen, aber deswegen nicht aufgegeben werden. Darin lag ein wichtiger Unterschied zu den "volksdeutschen" Minderheiten, die das nationalsozialistische Regime um der ethnischen Homogenisierung weiter Teile Ostmitteleuropas willen umsiedelte. Wiebke Lisner arbeitet heraus, dass es dabei - bei den bäuerlichen Wolhyniendeutschen, im Unterschied zu den bürgerlichen oder adligen Deutschbalten - zu Entbehrungen, Disziplinierungen und Trennungen kam. Die betroffenen Frauen vermochten diese jedoch zum Teil eigensinnig zu vermeiden oder durch die Nähe zu Verwandten oder Freundinnen zu kompensieren. Während hier der familiäre Zusammenhalt temporär unterbrochen, aber doch politisch gefördert wurde, zerstörte ihn das Regime für andere Gruppen bewusst, wie Isabel Heinemann argumentiert. Die Bedürfnisse "wiedereindeutschungsfähiger" Erwachsener, zwangsgermanisierter Kinder in Pflegefamilien und unverheirateter Zwangsarbeiterinnen zählten dabei schlicht nicht.

Vor dem Hintergrund zeitgenössischer und jahrzehntelang fortwirkender Ignoranz gegenüber dem außerhalb der deutschen Grenzen verursachten Leid ist es wichtig, dass der Band einen Teil zu den "Familien der Besatzungsgesellschaften" umfasst. Marcel Brüntrup zeigt, dass das Regime schwangere Zwangsarbeiterinnen zunächst meist in ihre osteuropäische Heimat zurückschickte, dann aber die neugeborenen Kinder entweder als "gutrassig" den Müttern wegnahm oder sie abtreiben bzw. in eigenen Pflegestätten lebensbedrohlich vernachlässigen ließ. Bestehende Familien zu trennen, wurde zwar zur Förderung der Arbeitsmotivation vermieden, aber gerade dies schloss die Verschleppung von Kleinkindern und kranken Angehörigen nach Deutschland ein. Die von Olga Radchenko behandelten polnisch-jüdischen Familien wurden vertrieben oder in Ghettos zusammengepfercht, wenn sie sich nicht wie viele Männer auf sowjetisches Gebiet flüchten konnten, wo sie jedoch oft das stalinistische Straflager erwartete. Carlos Alberto Haas untersucht anhand von Selbstzeugnissen, wie Juden im Warschauer Ghetto die Trennung von Familienangehörigen reflektierten, sie durch Erinnerung ebenso wie Hoffnung zu verarbeiteten versuchten und nach den Konsequenzen fragten, die sich daraus für ihre jüdische Identität ergaben. Schließlich widmet sich Yuliya von Saal dem millionenfachen Auseinanderreißen sowjetischer Familien, das in formlose Adoption, die Einnahme von Elternrollen durch ältere Geschwister oder Großeltern und die Bildung familienähnlicher Ersatzgemeinschaften mündete.

Gerade der Blick auf die Trennungen unterstreicht den Bedeutungsgewinn der Familie "als Versorgungs- und Verantwortungsgemeinschaft, als Überlebenszelle, als emotionale[m] Rückzugsort" (Saal, 364). Die intensiven, teils eigensinnigen und sogar widerständigen, teils propagandistisch flankierten und administrativ stimulierten Versuche, Trennungen zu vermeiden, zu überwinden oder zumindest auszugleichen, arbeiten die Beiträge eindrucksvoll heraus. Genau diese Konzentration auf die Sicherung des eigenen Privatraums brachte mit sich, dass sich als "arisch" geltende Menschen über die Erfahrungen der zur Ausgrenzung, Ausbeutung oder Deportation vorgesehenen Familien selten Gedanken machten - wenn sie nicht sogar die Vertreibung von Polen und Juden bewusst forcierten, worauf Lisner hinweist. Eine breitere Kontextualisierung dieser Befunde bieten Tatjana Tönsmeyers Überlegungen zu einer Geschichte der Besatzungsgesellschaften, die familiäre Beziehungen einbezieht und damit die Makro- mit der Mikroebene, die Sozial- mit der Emotionsgeschichte verbindet. Weiter nachzugehen wäre der Frage, wie sich die kriegsbedingten Trennungen in die europäische Familiengeschichte des 20. Jahrhunderts integrieren ließen. Verschiedentlich wird die Brücke zu den Erfahrungen der Nachkriegsjahre und den traumatisierenden Langzeitfolgen geschlagen. Heinemann verweist zudem auf die "forcierte Familienrhetorik und Politik der Regierungen Adenauer" (80). Angestrengte Bemühungen, den Familienzusammenhalt sowohl zu beschwören als auch zu fördern, gab es auch in anderen europäischen Gesellschaften - sowohl nach 1945 als auch bereits in den 1920er und 1930er Jahren, in denen die Verluste und Trennungen des Ersten Weltkriegs nachwirkten und sich gleichzeitig zunehmend Individualisierungsansprüche artikulierten. Inwiefern beeinflusste dieser Hintergrund die Trennungserfahrungen und -deutungen während des Zweiten Weltkriegs? Vorerst bleibt das Fazit, dass das "Jahrhundert der Extreme" (Eric Hobsbawm) die europäischen Familien starken Fliehkräften aussetzte und sie gleichzeitig mit hohen Kohäsions- und Stabilitätserwartungen belastete. Kein Regime tat dies jedoch mit derartiger ideologischer Monomanie und instrumenteller Brutalität wie das nationalsozialistische Deutschland.

Moritz Föllmer