Brienne le Jeune: Mémoires. Tome I, Première rédaction, 1re partie (1682-1684). Tome II, Première rédaction, 2e partie (1683), Seconde rédaction (1696-1697). Édition critique par J. Delon (= Bibliothèque des Correspondances, Mémoires et Journaux; 126), Paris: Editions Honoré Champion 2022, 1359 S., ISBN 978-2-7453-5746-5, EUR 200,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Klaus Deinet: Christian I. von Anhalt-Bernburg (1568-1630). Eine Biographie des Scheiterns, Stuttgart: W. Kohlhammer 2020
Birgit Emich: Territoriale Integration in der Frühen Neuzeit. Ferrara und der Kirchenstaat, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2005
Wolfgang Reinhard (Hg.): Römische Mikropolitik unter Papst Paul V. Borghese (1605-1621) zwischen Spanien, Neapel, Mailand und Genua, Tübingen: Niemeyer 2004
Quelleneditionen in Buchform sind selten geworden in Deutschland. Der Trend geht scheinbar unaufhaltsam in Richtung Online-Edition, wofür es durchaus auch gute Gründe gibt. Unschlagbar jedoch ist das Buch hinsichtlich der Nachhaltigkeit: Einmal auf alterungsbeständigem Papier bedruckt, unter korrekten Bedingungen aufbewahrt, bedarf es keiner Pflege wie Webseiten. Aber lassen wir diese Grundsatzfragen beiseite, entscheidend ist, dass auch weiterhin Quellen kritisch ediert und damit einem größeren Publikum zur Nutzung zur Verfügung gestellt werden. Auch Frankreich hat eine große Tradition der Quelleneditionen und diese lebt fort in verschiedenen Editionsreihen bekannter Verlage.
Zu den unbekannteren Persönlichkeiten des französischen Grand Siècle zählt zweifellos der Autor der hier vorliegenden Memoiren, Louis-Henri de Loménie, Comte de Brienne (1636-1696), bekannt als Brienne Le Jeune. Der jüngere Brienne war ein typischer Spross einer amtsadeligen Dynastie, die ihren sozialen Aufstieg der Loyalität gegenüber der Monarchie und der gewissenhaften Führung der ihnen übertragenen Ämter verdankte. Die Familie stammt aus dem Limousin und gelangte im Gefolge des Aufstiegs der Bourbonen in die höchsten Staatsämter. Der Vater, Henri-Auguste de Loménie, wurde nach Ludwigs XIII. Tod an die Spitze des Staatssekretariats der auswärtigen Angelegenheiten berufen. Schon mit 15 Jahren erhielt sein Sohn die "survivance", d.h. die Zusage, dem Vater im Amte nachfolgen zu können. Dafür erhielt er eine umfassende Ausbildung: ein Jurastudium, eine Kavalierstour und das Erlernen von Sprachen standen auf dem Lehrplan. Sogar Deutsch erlernte Brienne während einer Reise durch Deutschland 1652-53. Da sein Vater gesundheitliche Probleme hatte und sein Amt nicht mehr ausüben konnte, ersetzte ihn sein Sohn schon 1658.
Zwar kontrollierten die Brienne die Korrespondenzen mit den französischen Gesandten in Europa, an der Konzeption der Außenpolitik und an politischen Entscheidungen wurden sie aber nicht beteiligt, weder der Vater noch der Sohn. Beiden gelang es nie, dem engen Kreis der "Kreaturen" um Mazarin beizutreten - dessen engster Vertrauter in Fragen der Außenpolitik blieb Hugues de Lionne.
Dennoch schätzte Mazarin den jungen Brienne wegen seiner Zuverlässigkeit, seinem Geschick in der Redaktion der Korrespondenz und seinem Fachwissen. Für drei Jahre, zwischen 1659 und 1661, bewegte sich Brienne im engsten Kreis der Macht um den Kardinal und den jungen König. Ihm verdanken wir die bekannteste Schilderung von Ludwigs XIV. berühmter Entscheidung vom 10. März 1661, auf die Ernennung eines leitenden Ministers nach Mazarins Tod zu verzichten. Aufgrund seiner Distanz zu Mazarin gehörte er nicht zu jenen drei (Le Tellier, Lionne, Fouquet), die seitdem mit Ludwig XIV. über die Geschicke der Monarchie berieten. Den Sturz Fouquets sah er nicht kommen. Seit dem Frühjahr 1661 degradiert zum Redakteur der von Lionne vorbereiteten Depeschen, vergnügte sich Brienne bis 1663 mit gelehrten Studien, dem Vergrößern der väterlichen Gemäldesammlung und stürzte sich in das Glücksspiel, was ihm große Schulden einbrachte. Sein nicht angemessenes Verhalten und die Schulden der Familie, fehlender Rückhalt in den Kreisen der Colberts und Le Telliers waren dann die Ursache seines Sturzes. Im Frühjahr 1663 zwang ihn der König zum Verkauf seiner charge des Staatssekretärs an Hugues de Lionne. Dies war das Ende einer anfangs doch verheißungsvollen Karriere.
Mit nicht einmal dreißig Jahren stand Brienne vor dem Scherbenhaufen seiner Karriere. Mit dem plötzlichen Tod seiner Frau wenige Monate nach dem Verlust seiner Charge kam ein weiterer Schicksalsschlag hinzu. Brienne reagierte wie nicht wenige seiner Zeitgenossen. Er zog sich von der Welt zurück und suchte Zuflucht in der Religion, indem er den Oratorianern in Paris beitrat. Hier widmete er sich in den folgenden Jahren intensiv literarischen Studien. Angebliche Affären führten 1670 zu seinem Ausschluss aus der Kongregation. Weitgehend mittellos, verschuldet, ohne Protektion folgten Jahre der Orientierungslosigkeit. Seinen Gläubigern versuchte er zu entkommen, indem er sich an den Hof des Herzogs von Mecklenburg begab. Doch auch dort konnte er nicht Fuß fassen. Als er 1673 wieder nach Paris zurückkehrte, hatten sich auch die letzten Freunde von ihm abgewandt.
Nun begann die eigentliche Tragödie seines Lebens. Nach einem kurzen Aufenthalt im Kloster von Saint Germain des Prés bewirkte 1674 seine Familie, mit der Zustimmung Ludwigs XIV., seine Entmündigung und Einsperrung in der Maison Saint Lazare, einem Hospital für Geisteskranke. Erst 1692 kam er frei, nachdem er beim König seine Begnadigung hatte erwirken können. Bis 1696 zog er sich in ein Kloster in Paris zurück, 1696 bis zu seinem Tode lebte er in der Abtei von Château Landon südlich von Fontainebleau.
All dies bietet Stoff für einen Roman bzw. für eine Autobiographie. Brienne, der nicht erst während seiner Zeit hinter verschlossenen Türen zu schreiben begonnen hatte (er verfasste neben Gedichten u.a. eine Geschichte des Jansenismus) redigierte von 1682 bis 1684 eine erste Version seiner "Mémoires". Ob er sie tatsächlich publizieren wollte, ist unklar; an seinem Rückzugsort Château Landon überarbeitete er seine Memoiren. Erstmals werden nun beide Versionen zusammen publiziert. Von der ersten Redaktion sind nur die ersten zwei Teile überliefert, die die Regentschaft, das Ministeriat Mazarins sowie Briennes Reisen umfassen. Delon konnte das Originalmanuskript des zweiten Teils in der Bibliothek von Auxerre aufspüren, ebenso wie die unbekannte Handschrift der zweiten Redaktion, die erst 1952 in die Handschriftenabteilung der Bibliothèque Nationale gelangte. Alle früheren Editionen gründen, wie der Handschriftenvergleich gezeigt hat, auf nicht immer zuverlässigen Kopien.
Delon präsentiert die "Mémoires" in leicht modernisierter Orthographie, was die Lektüre erleichtert. Dass beide Versionen ediert werden, hat seinen Grund, denn die Versionen unterscheiden sich doch erheblich. Die erste Redaktion ähnelt tatsächlich den typischen Erinnerungen: eine chronologische Darstellung und ein ausführlicher Reisebericht über Erlebnisse in Deutschland und Nordeuropa. Über seine Beobachtungen bei den Lappen in Finnland führte er nach seiner Rückkehr einen gelehrten Streit, der auch Eingang in die Erinnerungen fand. Die chronologische Erzählung tritt in der zweiten Redaktion zurück zu Gunsten bilanzierender Kapitel, in denen ein bestimmtes Thema (z.B. der Sturz Fouquets) behandelt wird. Die Autobiographie findet sich hier im ersten und zweiten Teil, die Teile drei bis fünf enthalten eine nicht allzu kritische Bilanz der Regierung Ludwigs XIV., gefolgt von einer Auswahl von Porträts "großer Männer" des Jahrhunderts.
Delons Edition, die sorgfältig und gut kommentiert ist, erlaubt die Wiederentdeckung und Rehabilitation einer Persönlichkeit, die lange als "verrückt" und wenig glaubwürdig abgetan wurde. Briennes Memoiren ermöglichen darüber hinaus wichtige Einblicke in die wenig beleuchteten ersten Jahre Ludwigs XIV., zwischen der Fronde und dem Beginn der Alleinregierung 1661. Es ist Jacques Delon zu danken, dass er der Forschung diesen Text zur Verfügung gestellt hat.
Sven Externbrink