Anna Pumprová / Libor Jan (Hgg.): Cronica Aule Regie. Die Königsaaler Chronik (= Monumenta Germaniae Historica. Scriptores; XL), Wiesbaden: Harrassowitz 2022, LXXIII + 592 S., ISBN 978-3-447-10755-6, EUR 180,00
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Die sogenannte Königsaaler Chronik (Cronica Aule Regie), benannt nach ihrem Entstehungsort, dem Zisterzienserkloster Königsaal (Zbraslav) bei Prag, gilt als eine grundlegende Quelle für die Geschichte des Königsreichs Böhmen in der zweiten Hälfte des 13. und der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Aufgrund der Situation Böhmens als Teil des Deutschen Reichs reicht die Bedeutung des Geschichtswerks über dessen "Kernland" hinaus auf die umliegenden Gebiete und das Reich an sich. Seit dem frühen 17. Jahrhundert war der Text Gegenstand mehrerer (Teil-)Editionen, die zwar den Erwartungen ihrer Entstehungszeit entsprachen, die aber heutigen Bedürfnissen nicht mehr zu genügen vermögen. Eine Neuedition nach den Regeln des gegenwärtigen Standes der Kunst war somit ein Forschungsdesiderat, das mit dem vorliegenden Werk eingelöst wird. Die Wurzeln des Projekts reichen ins Jahr 2008 zurück, als es an der Masaryk-Universität in Brünn initiiert wurde, zwischen 2010 und 2014 erfuhr es in der Tschechischen Republik staatliche Förderung.
Auf den ersten fünfundfünfzig Seiten der Einleitung präsentiert Anna Pumprová, sekundiert von Robert Antonín und Demeter Malaťák, eine Forschungsübersicht, die sich auf die vorgängigen Editionen und die sich auf Letztere abstützenden Übersetzungen konzentriert. Darauf wird die Verfasserfrage angesprochen, bevor die Chronik als solche sowie deren Überlieferung vorgestellt wird, von der wiederum die Gestaltung der Edition beeinflusst ist.
Der erste Editor der Königsaaler Chronik war der schwäbische Jurist, Historiker und Publizist Marquard Freher (1565-1614), der unter anderen Werken auch Anthologien deutscher, Moskowiter und eben auch böhmischer Quellen herausbrachte. In Letztgenannter druckte er 1602 auch das zweite von drei Büchern der Königsaaler Chronik ab, wobei er sich auf die als Autograph des Verfassers geltende Handschrift in der Bibliotheca Palatina in Heidelberg stützen konnte - eine Handschrift, die zwei Jahrzehnte später als "Kollateralfolge" der Eroberung der Kurpfalz durch die Katholische Liga als eine von rund 3600 Handschriften nach Rom gebracht wurde, wo sie bis heute in der Bibliotheca Apostolica Vaticana aufbewahrt wird. Die nächste Edition der Königsaaler Chronik erschien 1794. Ihr Bearbeiter, der Prager Piarist Gelasius Dobner, konnte dank der vorgängigen Entdeckung einer vollständigen Chronikfassung in einer Handschrift des Iglauer Stadtarchivs erstmals alle drei Bücher herausgeben. Weitere Editionen wurden 1875 vom mährisch-österreichischen Historiker Johann Loserth und nur neun Jahre später, 1884, vom tschechischen Historiker Josef Emler vorgelegt, dessen Fontes rerum Bohemicarum fallweise heute noch herangezogen werden. Sowohl Loserths als auch Emlers Ausgaben haben ihre zeitgebundenen editorischen Schwächen - in erster Linie "korrigierende" Eingriffe in den überlieferten Text -, die in der Einleitung zur Neuedition der Königsaaler Chronik angesprochen werden, auf die hier aber nicht im Detail eingegangen werden kann. Hingegen soll an die Übersetzungen ins Tschechische (1905 und 1952) und Deutsche (2014) erinnert werden, ein oft übergangenes Genre, das für die jüngste Edition aber insofern von Belang ist, als bei jedem Übersetzungsvorgang neue Zitate ausgewiesen worden sind.
Die ältere Forschung ging bei der Königsaaler Chronik von zwei aufeinanderfolgend tätigen Autoren aus, nämlich dem kurzzeitigen Königsaaler Abt Otto von Thüringen († 1314), der den Teil des ersten Buches verfasst haben soll, und dem langjährigen Abt Peter von Zittau († 1339/40), der Ottos Werk bis ins Jahr 1338 fortgeführt habe. Aufgrund der stilistischen Kontinuität, welche das Werk durchzieht, plädieren die Herausgeber der Neuedition nun dafür, den heute vorliegenden Textbestand ganz Peter von Zittau zuzuschreiben. Letzterer habe, so die neue Lehrmeinung, eine vorausgegangene Schrift Ottos von Thüringen zur Klostergründung für seine eigene Darstellung genutzt, dabei aber Ottos Text "stilistisch auf eine grundlegende Weise überarbeitet, in unbekanntem Ausmaß ergänzt und so gestaltet, damit dieser seiner eigenen Konzeption und seinen ästhetischen Anforderungen entsprach". (XX)
Der vor dem Jahr 1305 ins Kloster eingetretene Peter wohnte als Zeitzeuge den im Kreise von Zisterzienseräbten geführten Verhandlungen über die Erhebung Johanns von Luxemburg auf den böhmischen Thron (1309-1310) bei. Nach der Heirat Johanns mit Elizabeth von Böhmen (1310) wurde Peter deren Vertrauensmann und begleitete das Königspaar auf mehreren Reisen, bevor er 1316 zum dritten Königsaaler Abt gewählt wurde. Nach der Entfremdung des Königspaares (1318) blieb Peter im Umkreis der Königin bis zu deren frühem Tod 1330. Nach einer zwischenzeitlichen Abstinenz vom Hof näherte er sich ab 1333 dem nach Böhmen zurückgekehrten Markgrafen Karl an und hielt sich in der Folge häufiger in Prag auf. Peters Königsnähe ist in der Chronik deutlich zu spüren, ebenso seine Parteinahme für Elizabeth im Zwist mit ihrem Ehemann Johann, dessen Benehmen er "in zorniger Erbitterung" (XXVI) geißelte. Die Abfolge der böhmischen Herrscher diente ihm als - traditionelles - Ordnungsprinzip für die Gestaltung seiner Aufzeichnungen, die er vergleichsweise zeitnah anfertigte. Je näher die geschilderten Ereignisse Peters Gegenwart kamen, desto annalistischer wurde seine Darstellung. Peter gilt als glänzender Stilist, der über unterschiedliche literarische Formen verfügte, die er in seine historiographische Schrift einfließen ließ, so Wundererzählungen, Visionen, Klagen oder Gebete. Sein "Markenzeichen" aber ist der prosimetrische Stil, d.h. die Abfolge von Prosapassagen und eingefügten Versen. In ihrer Gesamtheit gilt Peters rhetorisch ausgefeilte Darstellung als Sprachkunstwerk.
Als fortlaufender Text ist die Königsaaler Chronik in fünf Handschriften überliefert (zwei weitere enthalten umfangreiche Auszüge), von denen freilich nur eine, die erwähnte Iglauer Handschrift, den gesamten Chroniktext enthält. Von besonderem Interesse ist die ebenfalls erwähnte (vormals Heidelberger, heute) vatikanische Handschrift, da sie das zweite Kapitel von Peters eigener Hand enthält (wobei der Verfasser in den Text inserierte Urkunden von Helfern abschreiben ließ). Dieses Autograph ermöglicht seltene Einblicke in Peters Arbeitsweise, insbesondere die Insertion zusätzlicher Informationen bzw. Dokumente zwecks Aktualisierung der Darstellung, die mittels eingefügter freier Blätter vorgenommen wurde. Weitere Korrekturen, vornehmlich formaler und stilistischer Art erfolgten durch Streichungen bzw. Rasuren und Neuformulierungen.
Die hier vorgelegte Neuedition der Königsaaler Chronik basiert auf der Iglauer und der vatikanischen Handschrift. Sie ist gemäß den bewährten MGH-Standards angelegt und enthält mehrere Register, die graphische Varianten der Eigennamen, Personen, Orte und Zitate ausweisen. Ein Wortregister, in der Regel das arbeitsintensivste, fehlt hingegen. Die Edition enthält den obligaten Variantenapparat, bei dem nebst den beiden Grundhandschriften auch die übrigen Textzeugen berücksichtigt werden, und einen Sachapparat. Dieser ist eher knapp ausgefallen und konzentriert sich - abgesehen von den Nachweisen auf die vom Chronisten zitierten Stellen - auf die Identifizierung von Personen und Orten, geht aber sonst eher wenig auf die berichteten Ereignisse ein. Dadurch erhält Peter von Zittaus Wort eine gleichsam autoritative Stellung, die dem relativen bzw. personengebundenen Charakter eines chronikalischen Werkes entgegenläuft. Die entsprechenden Einordnungen bleiben somit den Benutzer:innen überlassen. Dessen ungeachtet, ist die neue Edition ein Meilenstein in der wissenschaftlichen Rezeption der Königsaaler Chronik und als solcher zu begrüßen.
Georg Modestin