Patricia Victorin: Froissart après Froissart. La réception des Chroniques en France du XVe siècle au XIXe siècle (= Collection "Interférences"), Rennes: Presses Universitaires de Rennes 2022, 491 S., 13 s/w-Abb., ISBN 978-2-7535-8602-4, EUR 28,00
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Die aus einer Habilitationsschrift hervorgegangene Studie verfolgt die Rezeption von Jean Froissarts Werken über mehrere Jahrhunderte. Im Zentrum des Interesses stehen seine Chroniken, welche die erste Hälfte des Hundertjährigen Krieges abdecken. Sein poetisches Schaffen und sein Versroman "Meliador" werden hingegen nur kursorisch behandelt, da dieser Teil von Froissarts literarischer Hinterlassenschaft ungleich schwächer rezipiert worden ist als sein historiographisches Werk.
Letzteres entzieht sich - so wie auch die Person Froissarts - einfachen Kategorisierungen. Der Chronist wurde gegen 1337 in Valenciennes geboren, heute eine französische Mittelstadt, zum Zeitpunkt von Froissarts Geburt ein urbanes Zentrum in der Grafschaft Hennegau und damit Reichsgebiet. Verstorben ist Froissart gegen 1401 im damals hennegauischen Chimay, heute in Belgien gelegen. Der französisch schreibende Chronist fühlte sich dem französischen Kulturkreis zugehörig, nicht aber dem französischen Königtum, was sich teilweise auf seine Rezeption auswirkte. Froissart hielt sich im Umkreis von Philippa von Hennegau auf, die 1328 durch ihre Heirat mit Eduard III. englische Königin geworden war und in deren Gefolge der Chronist 1361 nach England kam, wo er mehrere Jahre blieb und intime Kenntnisse zu Hof und Land erlangte. Sein Profil als anglophilster französisch schreibender Chronist schadete seiner Rezeption in Frankreich, wo er - vor allem im 16. Jahrhundert - als zu wenig patriotisch galt. Auch geriet die erste moderne, d.h. auf das 19. Jahrhundert zurückgehende, Edition von Froissarts Chroniken zu einem französisch-belgischen Wettstreit, da beide Nationen den Geschichtsschreiber für sich reklamierten. Das Ergebnis dieser Rivalität, die von der Verfasserin im ersten Teil ihrer umfangreichen Studie nachgezeichnet wird und die durch die Erinnerung an die französische Besetzung des nachmaligen belgischen Staatsgebietes während der Revolutionskriege und des ersten Kaiserreichs genährt wurde, sind zwei Editionen: Eine erste ist, herausgegeben von Joseph Kervyn de Lettenhove, zwischen 1867 und 1877 in Brüssel erschienen; eine zweite, von Siméon Luce begründete, folgte ab 1869 in Paris, wobei sie 1975 zu einem (Zwischen-)halt kam und bis heute unabgeschlossen geblieben ist.
Beide Projekte haben ihre Eigenheiten, die in der ausgesprochen komplexen Handschriftensituation begründet sind: Froissart hatte nämlich die Angewohnheit, seine historischen Aufzeichnungen immer wieder umzuschreiben, so dass er - als Ergebnis dieses "work in progress" - mehrere Redaktionsstufen hinterlassen hat. Erschwerend kommt die große Anzahl erhaltener mittelalterlicher Handschriften hinzu, die auf über hundertfünfzig Exemplare in mehr als dreißig Bibliotheken in Europa und Nordamerika beziffert wird. Kervyn de Lettenhove versuchte der schwierigen Situation, die von der Verfasserin als "complexité" und "jeux de sédimentation textuelle" (54) umschrieben wird, gerecht zu werden, indem er vier Textschichten parallel abdruckte - dies um den Preis einer gewissen editorischen Schwerfälligkeit. Kervyn de Lettenhoves französischer Konkurrent Siméon Luce, der 1892 verstarb, weshalb die Edition in andere Hände überging, kritisierte diesen Ansatz als "Fruchtsalat" ("macédoine"). Er selbst optierte für einen Lauftext, der auf einer Redaktion beruht und mit Angaben zu Textvarianten versehen ist.
Heute ist die Froissart-Forschung bereit, die Qualitäten beider Editoren, Kervyn de Lettenhove und Luce, anzuerkennen, ohne ihre jeweiligen Schwächen zu übergehen, währenddem neuere Editionen dazu tendieren, die einzelnen Handschriften als eigene Werke zu betrachten.
Wie anglophil Froissart in Frankreich auch galt oder nicht, das sachliche Interesse, das seinen Chroniken innewohnt, war unbestritten. Seit dem 15., vor allem aber im 16. Jahrhundert wurden gekürzte Fassungen ("abrégés") seiner Schriften erstellt, die teilweise auch übersetzt wurden. Froissart wurde also gleichsam nach Belieben gekürzt und bearbeitet, eine Praxis, die Jahrhunderte andauerte. Im 19. Jahrhundert kam dann noch eine weitere Rezeptionsform hinzu, nämlich Anthologien bzw. Auszüge, die sich vielfach auf die Editionen von Kervyn de Lettenhove und Luce stützten. Zu Froissarts nationaler und auch internationaler Popularisierung trugen Publikationen wie die "Leçons et modèles de littérature française et moderne" (1838) in Frankreich oder "The Boy's Froissart" (1878) in den Vereinigten Staaten bei, wobei das amerikanische Interesse zweifellos dem englischen entwuchs. Damit änderte sich auch Froissarts Publikum: "Les Chroniques, qui étaient jusque-là l'apanage des érudits et antiquaires, tendent à se conquérir un public plus large et notamment les écoles et lycées" (62). Die Verfasserin sieht das wachsende Interesse an den "französischen" mittelalterlichen Klassikern in einem Zusammenhang mit der nationalen Rückbesinnung Frankreichs auf sich selbst ("repli identitaire vers le passé national", 63) nach der Niederlage von 1870-1871, wobei der Gegner nicht mehr England, sondern Deutschland war, was für die Rezeption Froissarts förderlich gewesen sein muss.
Nach der Darstellung der Druckgeschichte von Froissarts Chronik kehrt die Verfasserin zu Froissart selbst zurück und beleuchtet sein Selbstverständnis als Chronist. Im Anschluss daran zeichnet sie seinen Einfluss auf die französische und englische Geschichtsschreibung bis ins 16. und 17. Jahrhundert nach, die im Fall Englands zu der zwischen 1523 und 1525 erschienenen Übersetzung führte, die Lord Berners auf Befehl König Heinrichs VIII. anfertigte und die eine markante Verbreitung erlebte. Mehr noch: "La traduction par Lord Berners des Chroniques de Froissart aurait permis aux Anglais de découvrir des pans entiers de leur histoire nationale" (94). Auf diese Übersetzung griff in maßgeblicher Weise auch Ralph Holinshed zurück, Autor der "Chronicles of England, Scotland and Ireland" (1578), als er in diesem Werk die Regierungen Eduards III. und Richards II. behandelte. Holinshed wiederum diente Shakespeare als Quelle für seinen "Richard II.". Berners' Übersetzung wirkte aber noch weiter nach: Von ihr ließ sich auch Walter Scott (1771-1832) inspirieren, gewissermaßen der Vater des historischen Mittelalterromans, dessen Popularität wiederum nach Frankreich zurückstrahlte, womit sich ein Kreis schloss.
Froissarts Einfluss auf die französische Geschichtsschreibung im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit ist von der Verfasserin sehr detailliert aufgearbeitet worden. Dabei kam dem Hennegauer Chronisten im 16. Jahrhundert sogar eine Rolle bei der konzeptuellen "Erfindung" des Hundertjährigen Kriegs zu, wobei sein Geschichtsbild mit demjenigen der "Grandes Chroniques de France" rivalisierte, die gewissermaßen die offizielle Darstellung von königlich-französischer Seite her vertraten (102-103, 107). In diesem Zusammenhang wurde Froissarts sprichwörtliche Anglophilie zum Thema, der wiederum seine bildhafte Sprache und sein Sinn für dramatische Wendungen entgegenstand, was für die Historiographen der königlichen französischen Tradition in der Nachfolge der "Grandes Chroniques" eine Zwickmühle darstellte (108). Dieser Zwiespalt wirkte bis ins 18. Jahrhundert nach: "Les historiens soulignent tour à tour sa verve conteuse [...] ou tendent à dévaloriser son témoignage jugé trop partial" (119), was mitunter zu Froissarts zeitweiliger Entfernung aus dem Corpus der Quellen zur französischen Geschichte führen konnte.
Das 19. Jahrhundert rehabilitierte Froissart schließlich, und das in einem doppelten Sinn: Zum einen profitierte er von der Faszination, die das Mittelalter im frühen 19. Jahrhundert auf die Geschichtsschreibung der Romantik ausübte - eine Historiographie, die sich noch auf veraltete frühere Editionen stützte, was sich erst ab den 1830er-Jahren im Zeichen des Positivismus ändern sollte, als sich die Mittelalterstudien institutionalisierten und professionalisierten. Zum anderen bedeutete das Aufkommen historischer Romane in der Nachfolge Walter Scotts einen neuen Bedeutungszuwachs für Froissart, dessen Chroniken - nicht zuletzt dank der bildhaften Sprache des Autors - zu Inspirationsquellen wurden, oft im Sinne eines Steinbruchs, dem einzelne Stoffe entnommen werden konnten. Neben Autoren, die einen klingenden Namen behalten haben, allen voran Alexandre Dumas, präsentiert die Verfasserin auch der Froissart-Rezeption weniger bekannter Romanciers, so Louis de Marchangy (1782-1826), Autor des 1825-1826 erschienenen Mittelalterromans "Tristan le Voyageur", der sich nicht nur inhaltlich an Froissarts Werk anlehnt, sondern in dem der Chronist selbst auch als handelnde Person auftritt. Das ist ein Froissart, über den sich chronikfremde Quellen zumeist ausschweigen und dessen Leben in erster Linie aus tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen Anspielungen in seinem poetischen und historiographischen Werk rekonstruiert wird - mit allen epistemologischen Problemen, die ein solcher Ansatz mit sich bringt.
Patricia Victorin präsentiert mit "ihrem" Froissart einen aufschlussreichen Überblick, der eine Reihe von Vertiefungen enthält und sich ebenso an Historiker*innen wie an Literaturwissenschaftler*innen mit Spezialisierungen vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert richtet.
Georg Modestin