Rezension über:

Thomas Schwitter: Erinnerung im Umbruch. Die Fortsetzung, Drucklegung und Ablösung der »Grandes chroniques de France« im 15. und frühen 16. Jahrhundert (= Pariser Historische Studien; Bd. 124), Heidelberg: Heidelberg University Publishing 2022, 334 S., 23 Abb., 5 Tbl., ISBN 978-3-96822-092-5, EUR 49,90
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Rezension von:
Georg Modestin
Kantonsschule Freudenberg Zürich / Universität Freiburg (Schweiz)
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Georg Modestin: Rezension von: Thomas Schwitter: Erinnerung im Umbruch. Die Fortsetzung, Drucklegung und Ablösung der »Grandes chroniques de France« im 15. und frühen 16. Jahrhundert, Heidelberg: Heidelberg University Publishing 2022, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 12 [15.12.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/12/37093.html


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Thomas Schwitter: Erinnerung im Umbruch

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Die vorliegende Studie, hervorgegangen aus einer 2015 an der Universität Bern angenommenen Dissertation, nimmt sich einer Thematik an, die von der Forschung - auch von der französischen, in deren "Hoheitsbereich" sie liegt - eher stiefmütterlich behandelt worden ist. Es geht um das Weiterleben der sogenannten "Grandes chroniques de France" im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert. Die "Grandes chroniques" waren die Leiterzählung der Geschichte Frankreichs, die seit dem 13. Jahrhundert im Kloster Saint-Denis fortgeschrieben wurde. Damit entwickelte sich das dem ersten Bischof und Schutzpatron von Paris geweihte Kloster zu einem zentralen Erinnerungsort für Frankreich, zumal es bis 1830 als Grablege der französischen Könige und Königinnen diente.

Eine Zäsur ergab sich mit dem Tod König Karls V. im Jahr 1380. Erst zwei Jahrzehnte später führte Michel Pintoin, ein Mönch aus Saint Denis, die Erzählung weiter und ergänzte sie um eine Darstellung der Herrschaft Karls VI. (1380-1422). Karls Regierungszeit wurde von seiner Geisteskrankheit verdüstert, die ein Machtvakuum an der Spitze des französischen Staates entstehen ließ. In dieses Machtvakuum stießen die großen Vasallen und königlichen Verwandten, so Ludwig, Herzog von Orleans und Bruder des Königs, der in einem heftigen Gegensatz zum burgundischen Herzog Johann Ohnefurcht (Jean sans Peur) stand. Die Auseinandersetzungen gipfelten in der Ermordung Ludwigs im November 1407. Die einsetzende Eskalationsspirale mündete in einem 1410 einsetzenden Bürgerkrieg, der sich bis 1435 hinziehen sollte: "Wechselnde Allianzen innerhalb des französischen Hochadels, aber auch eine Vielzahl regionaler und lokaler Akteure auf allen sozialen Ebenen kennzeichnen diesen vielschichtigen Konflikt" (30). Eine weitere Dimension erhielt dieser durch das Eingreifen des englischen Königs Heinrich V., der eine weitere Phase in der rückblickend als Hundertjähriger Krieg bezeichneten dynastischen Auseinandersetzung einläutete und dessen Truppen den französischen Adel 1415 bei Azincourt vernichtend schlugen. Weitere Wegmarken im Verlauf des Konfliktes waren eine anglo-burgundische Annäherung oder die Ermordung des Herzogs Johann Ohnefurcht in Anwesenheit des Dauphins, des künftigen Königs Karl VII. im Jahr 1419. Diesem gelang es, sich mit Hilfe von Johanna von Orleans 1429 in Reims krönen zu lassen. 1435 folgte die Aussöhnung mit dem burgundischen Herzog Philipp dem Guten (Philipp le Bon) - die Grundlage für den letztlichen Triumph gegen die Engländer, der bis 1453 in der sukzessiven Einnahme der Île-de-France, der Normandie und der Guyenne mündete.

Diese verwickelte Ereignisfolge, die von Thomas Schwitter auf knapp zehn Seiten sehr klar zusammengefasst worden ist, bildet gewissermaßen das Material, das von den "Grandes chroniques" und ihren Fortsetzungen historiographisch aufgearbeitet werden musste, wobei die politische Konkurrenzsituation im Felde entsprechend konkurrierende Geschichtsbilder entstehen ließ. Der Verfasser unterscheidet im Rahmen seiner Studie deren drei: ein burgundisches, ein königlich-orleanisches und ein integratives Geschichtsbild. Am Ursprung des burgundischen Geschichtsbildes sieht Schwitter die Chronik des Enguerrand de Monstrelet aus den 1440er-Jahren, aus der Zeit nach der burgundisch-französischen Aussöhnung. Als prägendes Ereignis, an dem sich die unterschiedlichen Geschichtsbilder entzweien, identifiziert der Verfasser die Ermordung Ludwigs von Orleans. Er verweist dabei auf Monstrelets Tendenz, "die Verantwortung für die Entgrenzung der Gewalt und den inneren Auflösungsprozess des [französischen] Königreichs auf viele Akteure zu verteilen. Johann Ohnefurcht ist in dieser Erzählung nur einer unter vielen Akteuren" (205).

Im königlich-orleanischen Geschichtsbild, vertreten in den 1450er-Jahren durch Gilles Le Bouvier, Herold Karls VII., werden die Opferrolle Ludwigs von Orleans akzentuiert und die "Auftraggeberschaft von Johann Ohnefurcht Schritt für Schritt aufgedeckt" (209). Entsprechend werden "die Vielfalt der Konfliktlinien und Akteure und die sich daraus ergebende Dynamik des Konflikts auf ein starres bipolares Schema von Gut und Böse reduziert" (210).

Das integrative Geschichtsbild entstand aus der Herausforderung, nach dem Sieg Karls VII. die "Vergangenheit mit der Gegenwart zu versöhnen", namentlich da "die Erinnerung an den Bürgerkrieg für die Eliten von Paris auf vielfältige Art und Weise problematisch [war]" (212). Der Verfasser beruft sich auf die anonyme "Histoire de Charles VI", eine gekürzte Übersetzung von Michel Pintoin. Rückblickend kompromittierende Entscheidungen werden darin durch den Kunstgriff der Reduktion von Komplexität entschärft: "ex post [...] als störend empfundene[s] Verhalten [wird] als alternativlose Zwangssituation dargestellt" (213).

In diesen komplizierten, von historischen Brüchen und zueinander in Konkurrenz stehenden Geschichtsbildern bestimmten Verhältnissen konnten die "Grandes chroniques" als einheitliche Leiterzählung nicht mehr ohne weiteres fortgeführt werden. Deren Ablösung erfolgte aber nicht plötzlich, sondern in Schritten. Auf die Fortsetzung mit Blick auf die Regierung Karls VI. durch Michel Pintoin haben wir bereits hingewiesen. Nach Pintoins Tod 1421 wurde seine Chronik bis zum Ableben Karls im Jahr 1422 durch seinen Mitbruder Jean Chartier fortgesetzt, "danach scheint in Saint-Denis das historiographische Schaffen [vorübergehend] zum Erliegen gekommen zu sein" (50). 1437 ernannte dann der siegreiche Karl VII. nach der Aussöhnung mit Burgund und dem Einzug in Paris Chartier zu seinem Historiographen. Chartier ließ seine lateinische Chronik zwar 1450 enden, übersetzte sie jedoch auf Französisch und führte sie bis zum Tod Karls VII. 1461 fort. Parallel zu seinem Schaffen entstand die bereits erwähnte anonyme "Histoire de Charles VI", die als reduzierte Übersetzung Pintoins ebenfalls in die Tradition von Saint-Denis gehört. Letzterer erwuchs indes Konkurrenz, sei es durch den königlichen Sekretär und Notar Noël de Fribois oder durch den bereits erwähnten königlichen Herold Gilles Le Bouvier. Sowohl die "Histoire de Charles VI" als auch die Aufzeichnungen von Le Bouvier und Chartier sind als Weiterführungen der "Grandes chroniques" handschriftlich überliefert worden.

Letztere schafften den Sprung ins Druckzeitalter, wovon die frühneuzeitlichen Ausgaben von 1476/77, 1493, 1514 und 1518 zeugen. Gleichwohl wuchs das Bedürfnis nach einer neuen Gesamtdarstellung der französischen Geschichte - unter dem Vorzeichen des italienischen Humanismus, aber auch um dem veränderten historischen Umfeld Rechnung zu tragen. Der erste Beweggrund ist mit den Namen des französischen Humanisten Robert Gaguin und demjenigen des von Karl VIII. zum offiziellen Historiographen ernannten Veronesers Paulus Aemilius verbunden, dessen "De rebus gestis Francorum" die "Grandes chroniques" "in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts als Leiterzählung ablöste" (127). Die neuen historiographischen "Bestseller" von Gaguin oder Paulus Aemilius waren einerseits kompakter als die "Grandes chroniques"; andererseits hatten die Auseinandersetzungen mit Burgund und England, welche die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts bestimmt hatten, an Relevanz verloren. Paulus Aemilius nahm beispielsweise die Ursachen der Italienischen Kriege stärker in den Blick, die zu Beginn des 16. Jahrhunderts von größerer Aktualität waren.

In unserem Text war die Rede von der Reduktion von Komplexität. Dieser Ansatz liegt auch der vorliegenden Rezension zugrunde, in der lange nicht alle vom Verfasser aufgegriffenen und verfolgten Bezüge angesprochen werden können. Auch wenn seine Darstellung ein konzentriertes Lesen verlangt, bleibt sie doch stets anschaulich und erhellend. Ihr größtes Verdienst liegt vielleicht darin, dass sie - entgegen dem historischen Reflex - für einmal nicht den Anfang eines Phänomens unter die Lupe nimmt, sondern das Ende: die Ablösung der mit dem Kloster von Saint-Denis verbundenen Tradition der "Grandes chroniques de France".

Georg Modestin