Jessika Piechocki: Bürgerliche Geselligkeit und Bildung um 1800. August Hermann und Agnes Wilhelmine Niemeyer in Halle (= Hallesche Forschungen; Bd. 63), Wiesbaden: Harrassowitz 2022, IX + 438 S., ISBN 978-3-447-11872-9, EUR 68,00
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Die im Wintersemester 2019/20 von der Philosophischen Fakultät III der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg angenommene Dissertation von Jessika Piechocki, 2022 in gedruckter Form in der renommierten Reihe "Hallesche Forschungen" des Verlages der Franckeschen Stiftungen erschienen, widmet sich mikrohistorisch einem in der deutschen Bürgertumsforschung nicht gerade unbekannten illustren Hallenser Ehepaar. Am Beispiel des Urenkels des berühmten Stiftungsgründers August Hermann Francke, August Hermann Niemeyer (1754-1828), der selbst als Theologieprofessor in Halle lehrte, und seiner Frau Agnes Wilhelmine Niemeyer, geb. Köpken (1729-1847), wird in der gut lesbaren und recht übersichtlichen 438-seitigen Publikation die Forschungsfrage aufgeworfen, "wie und durch welche kulturellen Praktiken sie zu 'Mitspielern im Projekt Bürgertum' wurden". (1) Warum die Autorin ausgerechnet das Ehepaar Niemeyer als Forschungsgegenstand auserkor, liegt auf der Hand; gilt dieses doch seit der älteren Bürgertumsforschung als ein fast schon klischeehaftes Musterbeispiel bürgerlicher Geselligkeit um 1800. Es war regional und überregional sehr gut vernetzt, pflegte verschiedenste Formen bürgerlicher Geselligkeit und lud zahlreiche Bürger, Adelige, Gelehrte, Künstler, Kaufleute, Studenten und Militärs, darunter Geistesgrößen wie Goethe und Schiller, in aller Regelmäßigkeit zu legendären Mittwochsabend-Feierlichkeiten zu sich ein, wodurch die Niemeyers und ihr Haus gegen Ende des 18. Jahrhunderts wahrlich zu einer wichtigen und prägenden Säule des Hallenser Kulturlebens wurden (1-2).
Die Arbeit, die unter anderem auf Archivrecherchen im Hallenser Archiv der Franckeschen Stiftungen, im Stadtarchiv Halle und im Familienarchiv Robert Harsch-Niemeyer in Tübingen basiert, verfolgt in kritischer Auseinandersetzung mit der sozialgeschichtlichen Bürgertumsforschung einen historisch-anthropologischen Ansatz, wodurch sie zur Untersuchung des Themenkomplexes einen originellen methodischen Akzent zu setzen vermag. So interpretiert die Autorin hinterfragenswert, aber durchaus mutig und ambitioniert das Bürgertum eben nicht bloß als eine spezifische Kultur von Praktiken, sondern zuvorderst als "literarische Fiktion", ergo als eine Utopie der zeitgenössischen Literatur. Weil die bürgerliche Gesellschaft den von der Literatur konstruierten bürgerlichen Entwürfen und Idealen nachgeeifert habe, seien im Umkehrschluss erst die besagten und identitätsstiftenden kulturellen Praktiken des Bürgertums entstanden (51). Lobenswert ist, dass Jessika Piechocki diesen historisch-anthropologischen Ansatz um eine räumliche Komponente erweitert. Denn sie geht in ihrer Studie von der Prämisse aus, dass die kulturellen Praktiken des Ehepaars Niemeyer nicht im luftleeren Raum entstanden, sondern zur Entwicklung und Entfaltung eines entsprechenden sozio-kulturellen Umfelds bedurften. Dieses sozio-kulturelle Umfeld bezeichnet die Autorin als "Konstellation Halle", die sich vordergründig aus der Universität, den Franckeschen Stiftungen, den städtischen Gesellschaftsverbindungen und den damit einhergehenden historischen Akteuren zusammensetzte (61).
Die Monographie ist im Großen und Ganzen logisch aufgebaut und in 9 Hauptkapitel gegliedert. In der "Einleitung" (1-76) geht Jessika Pichocki zunächst auf den Gegenstand ihrer Untersuchung (1-17), den Forschungsstand in Bezug auf die Analysekategorie "Geselligkeit" in der Bürgertumsforschung und das Ehepaar Niemeyer ein (17-48). Nachdem sie viel zu kurz auf weniger als einer Seite Text die Quellensituation beschreibt (49-50), erläutert die Autorin umso umfangreicher und souverän ihren methodischen Forschungsansatz (51-63). Diffus bleibt in diesem Unterkapitel leider, auf welchen konkreten geschlechtergeschichtlichen Überlegungen die Arbeit beruht, verortet die Autorin ihre Dissertation eingangs doch nicht nur in der historischen Bildungs- und Bürgertumsforschung, sondern auch - wie der weitere Inhalt der Publikation zeigt - durchaus berechtigt in der historischen Frauen- und Geschlechterforschung (14). Erfreulich ist, dass sie in einem eigenen Unterkapitel quellenkritisch über die für ihre Studie zentralen Quellenarten Brief und Autobiographie reflektiert (63-76).
Im zweiten und dritten Kapitel umreißt Jessika Piechocki informativ und mit Einbezug der jeweiligen Elterngeneration ansprechend die von Bildung und Geselligkeit geprägten Biographien von Agnes Wilhelmine (77-110) und August Hermann (111-150) bis zu ihrer Verehelichung 1786. Mit Akribie arbeitet sie etwa heraus, dass sich die Eltern August Hermanns von den strikt pietistischen Erziehungsidealen August Hermann Franckes distanzierten und ihre Kinder ganz im Sinne der sich weiter entwickelnden deutschen Aufklärung zu eigenständigen und vernunftorientierten Menschen formen wollten. Zentral war hier vor allem die Vorbildfunktion des Vaters Johann Conrad Philipp Niemeyer, der als Pfarrer eine gemäßigte Frömmigkeit mit dezidiertem Vernunftdenken verkörperte (125-126). Das darauffolgende vierte Kapitel skizziert das Kennenlernen von August Hermann und Agnes Wilhelmine im Umfeld gebildeter Geselligkeiten. Sehr aufschlussreich ist in diesem Kontext der teilweise von unverhohlen mitgeteilten Empfindungen und Erwartungen gegenüber dem anderen Geschlecht geprägte Briefwechsel zwischen den beiden, den Piechocki sowohl inhaltlich als auch semantisch interessant und quellenkritisch aufarbeitet (171-187).
Ebenso begrüßenswert ist, dass sich die Autorin im fünften und für die Publikation zentralen Hauptkapitel anhand von Lexika, Adolph Freiherr von Knigges "Ueber den Umgang mit Menschen" (1788) und Friedrich Schleiermachers "Versuch einer Theorie des geselligen Betragens" (1799) zunächst intensiv mit dem zeitgenössischen Geselligkeitsbegriff beschäftigt (206-228), ehe sie sich mit der eigentlichen "Niemeyerei", dem Ehepaar Niemeyer als Gastgeber, deren repräsentativem bürgerlichen Haus und seiner Rolle für die bürgerliche Geselligkeit in Halle (228-265, 332-347) sowie mit deren Praktiken gebildeter Geselligkeit auseinandersetzt (266-332). Das Haus der Niemeyers diente, wie Jessika Piechocki eindrucksvoll unter Beweis stellt, regelrecht als penibel und detailreich gestalteter konstruierter Inszenierungsort bürgerlicher Geselligkeit. Entsprechendes Mobiliar, Klavier und Büsten von Euripides, Rousseau, Plato, Robert Herrick usw. sollten Raum und Atmosphäre bürgerlicher Geselligkeit vor aller Augen demonstrativ zur Schau stellen (250-254).
Zu den Praktiken gebildeter Geselligkeit im Rahmen der "Niemeyerei" zählt die Autorin Briefe schreiben, Spazieren und Natur genießen, Musizieren, Tanzen und Lesen. Mentalitätsgeschichtlich besonders erhellend sind beispielsweise ihre einordnenden Ausführungen über August Hermann Niemeyers Ansichten über die Bedeutung des Spaziergangs und des Naturgenusses, die sich in einigen Ego-Dokumenten widerspiegeln. Der Spaziergang als Praktik bürgerlicher Geselligkeit diente Niemeyer nicht nur zur Zerstreuung und als willkommene Ablenkung von den Mühen des Alltags, sondern auch als eine Gelegenheit, sich weiterzubilden und neue Bekanntschaften zu erschließen (276-288).
Nicht verschwiegen werden kann, dass Jessika Piechocki dazu tendiert, es zu verabsäumen, die geschilderten Praktiken gebildeter Geselligkeit zu historisieren. Diese Praktiken kamen schließlich nicht aus dem Nichts und waren keine Erfindung oder ein Alleinstellungsmerkmal des Bürgertums um 1800, sondern wurden in gelehrten Kreisen schon in früheren Jahrzehnten und Jahrhunderten der Frühen Neuzeit gepflegt. Wenn die Autorin schreibt, dass sich der "Spaziergang und Naturgenuss als kulturelle Praxis im Bürgertum zu Beginn des 19. Jahrhunderts etabliert hatten" (278) oder der Brief erst um 1800 "zu einem Medium des geselligen Betragens" (276) geworden sei, entsteht jedoch ein gegenteiliger Eindruck. Mit der schon einführend getätigten Bemerkung, wonach die zahlreichen Briefwechsel am Ende des 18. Jahrhunderts nur vor dem Hintergrund eines "Übergangs von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft" (66) zu verstehen seien, folgt sie einem schon längst überholten Narrativ der älteren Bürgertumsforschung.
Dennoch vermag es die quellengesättigte Studie, die mit einer Zusammenfassung der Forschungsergebnisse (349-360), einem Anhang (361-364), einem Quellen- und Literaturverzeichnis (365-426) und einem Personen- und Ortsregister abschließt (427-438), unbestritten, allein durch ihren kreativen und in der Analyse sehr konsequent durchgeführten methodischen Ansatz sowie durch die Hinzuziehung eines beachtenswerten Quellenkorpus neue Schlaglichter auf die Hallenser "Niemeyerei" um 1800 zu werfen.
Philip Steiner