Ines Peper / Thomas Wallnig (eds.): Central European Pasts. Old and New in the Intellectual Culture of Habsburg Europe, 1700-1750 (= Wissenskulturen und ihre Praktiken / Cultures and Practices of Knowledge in History; Vol. 6), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2022, VIII + 660 S., 18 Abb., ISBN 978-3-11-064911-6, EUR 94,95
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Die Methoden- und Themenfelder Wissensgeschichte, Ideengeschichte, Historische Praxeologie und Gelehrtenkulturen weisen in der österreichischen Historiographie noch immenses Forschungspotenzial auf. Daher gebührt Ines Peper und Thomas Wallnig als Herausgebern des sich aus 24 deutsch- und englischsprachigen Beiträgen zusammensetzenden Sammelbandes "Central European Pasts. Old and New in the Intellectual Culture of Habsburg Europe, 1700-1750" schon einmal Dank und Anerkennung, dass sie mit dieser Publikation das Desiderat ein Stück beseitigen und Inspirationen für weitere Forschungsarbeiten liefern wollen. Der Band ist 2022 in der Reihe "Wissenskulturen und ihre Praktiken" erschienen.
Das von Ines Peper und Thomas Wallnig in der Einleitung (3-19) vorgestellte methodische Vorhaben des Sammelbandes, anhand diverser inhaltlicher Betrachtungen die Vergangenheitskonzeptionen mitteleuropäischer Intellektueller der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu beleuchten, ist ein höchst interessanter und gewinnbringender Ansatz und kann mithilfe einiger Beiträge durchaus erfüllt werden. Gefragt wird sinnvollerweise im Band danach, in welchem Ausmaß und in welchen Kontexten und Medien mitteleuropäische Intellektuelle die westeuropäische "querelle des anciens et des modernes" (3) rezipierten und an ihr partizipierten. Auch wird der Frage nachgegangenen, welche Entwicklungslinien und Traditionen in Debatten über Alt und Neu mündeten. Die Herausgeber entschieden sich allerdings dagegen, ein für alle Aufsätze geltendes konzeptionelles Verständnis der Etablierung von Zeit vorzugeben, sondern überließen es dem Gusto der beitragenden Historikerinnen und Historiker, sich dabei auf Frank Bless, Reinhart Koselleck, François Hartog oder andere Theoretiker zu beziehen. Dies birgt zwar den großen Vorteil methodischer Vielfalt und Flexibilität in Hinblick auf die unterschiedlichen Quellenbestände und Themen, kann aber zugleich einem stringenten methodischen roten Faden entgegenwirken. Dass in der Folge einige Studien sogar ganz darauf verzichten, sich für eine Zeit-Konzeption zu entscheiden, ist die Kehrseite der Medaille.
Über 20 Aufsätze in einem Sammelband sinnvoll zu kategorisieren und zu ordnen, ist wahrlich eine kaum zu bewältigende Aufgabe. So ist es zunächst sehr lobenswert und berechtigt, dass Thomas Wallnig und Ines Peper im Abstract in einem weiteren einführenden Kapitel (23-51) die politischen und institutionellen Rahmenbedingungen der Fallstudien präzisieren. Sie erläutern, dass im Band "die Katholische Kirche, das Heilige Römische Reich und die sich entwickelnde Habsburgermonarchie als drei sich überlagernde und überschneidende politische Entitäten" (23) begriffen werden. Etwas widersprüchlich ist es daher, dass die meisten Aufsätze nach den "Introductions" unter "The Church", "The Empire" und "The Habsburg Monarchy" dreigeteilt kategorisiert wurden. Daraus ergibt sich auch das Problem, dass die Zuteilung der einzelnen Beiträge nicht immer einleuchtend ist. Warum Manuela Mayers Ausführungen über die Argumentationsstrategien zur Studienreform an der Universität Wien anfangs des 18. Jahrhunderts unter "The Empire" gereiht werden, dahingegen Mona Garloffs Aufsatz über den Wiener Buchhandel von Johann Adam Schmidt unter "The Habsburg Monarchy" aufscheint, erschließt sich nicht ganz. Eine solche Abkoppelung wäre nur dann sinnvoll, wenn die Beiträge der zuletzt genannten Kategorie sich räumlich ausschließlich auf habsburgische Territorien abseits des Alten Reichs beziehen würden. In diesem Fall wäre es angesichts der von den Herausgebern selbst betonten Verflechtungen umso wichtiger gewesen, durch eine andere Kategorisierung auch semantisch und methodisch zu unterstreichen, dass die Geschichte des Alten Reiches nicht ohne die Habsburgermonarchie, und die Geschichte der Habsburgermonarchie nicht ohne das Alte Reich gedacht werden kann.
Auch wenn die unglückliche Kategorisierung den Eindruck etwas trübt, bleibt jedoch positiv zu vermerken, dass sich der von den Herausgebern sorgfältig bearbeitete Sammelband durch mehrere profunde Aufsätze auszeichnet. Auf fünf Studien soll hier exemplarisch näher eingegangen werden. Einen inspirierenden Ansatz liefert unter anderem William O'Reilly über die habsburgische Ideengeschichte im globalen Kontext (53-95), indem er anhand mehrerer Beispiele herausarbeitet, welche Bedeutung gerade im Verlauf des 18. Jahrhunderts der Idee von notwendiger Innovation im Kontext intellektueller Debatten und Argumentationsstrategien im Spannungsfeld von vergangenem und gegenwärtigem Wissen zukam, um Herrschaftsträger zum Handeln und zur Bereitstellung von Ressourcen zu animieren.
Innovativ und erfreulich quellengesättigt sind die Überlegungen von Juliette Guilbaud, welche der Rezeption der vom französischen König Ludwig XIV. forcierten und von Papst Clemens XI. zur Bekämpfung des Jansenismus erlassenen Bulle Unigenitus Dei filius von 1713 eine neue Interpretation verleihen (141-169). Denn die Bulle, so zeigen die von der Autorin ins Feld geführten Quellen, erfuhr im Alten Reich eine weit breitere Rezeption, als ihr die Forschung bislang attestieren wollte. Die Reaktionen und Kontroversen bewegten sich eben nicht wie häufig behauptet bloß innerhalb der Reichskirche. Guilbaud zeigt außerdem quellengestützt auf, dass die Bulle unter den geistlichen Fürsten nicht überall auf Zustimmung traf, sondern einzelne Inhalte der Bulle bei manchen, wie z.B. beim Mainzer Erzbischof Lothar Franz von Schönborn durchaus auch auf Kritik stießen.
Universitätsgeschichtlich von nicht zu unterschätzender Bedeutung und hoch interessant ist Manuela Mayers Aufsatz über die Argumentationsstrategien des Göttweiger Abts Gottfried Bessel in seiner Rede anlässlich seines Amtsantritts als Rektor der Universität Wien, in der dieser ein äußerst glorifizierendes Bild von (vermeintlichen) vergangenen Geistesgrößen der damals sich in einer veritablen Krise befindenden Universität Wien entwarf, um die Notwendigkeit einer Studienreform allen Zuhörern, Verantwortlichen, Gelehrten und Studenten bewusstzumachen (241-266). Erklärtes Ziel Bessels war es, durch derartige historisch-rhetorische Konstruktionen den damals spürbaren Bedeutungsverlust der Universität Wien zu illustrieren und die Universität wieder zur verloren geglaubten Größe zurückzuführen.
Hervorragend und buchgeschichtlich relevant ist der Text von Mona Garloff über die Praktiken des Gebrauchtbuchhandels (313-345). Die Historikerin untersucht anhand des Wiener Buchhandels von Johann Adam Schmidt aus Nürnberg die Etablierung eines neuen Geschäftsmodells zu Beginn des 18. Jahrhunderts. In den Fokus des Beitrags rücken einerseits das Verlags- und Sortimentsangebot und andererseits neuartige Vertriebspraktiken wie die Angabe von Fixpreisen für Bücher. Besonders ins Blickfeld genommen wird dabei der Verkauf von Beständen der Bibliotheca Anonymiana von 1738 an das Benediktinerstift Göttweig.
Faszinierende Fallbeispiele führt Andrea Griesebner zum josephinischen Eherecht heran, allerdings wäre es noch schön gewesen, diese noch mehr in den Komplex des Josephinismus unter Hinzuziehung von entsprechender Fachliteratur einzubetten (529-566).
Der Sammelband schließt mit einem übersichtlichen und für die Recherche hilfreichen Personen- (639-653) und Ortsregister (655-660). Insgesamt handelt es sich hier um einen verdienstvollen Sammelband, der für die Geschichtswissenschaft gewiss einen wissens-, ideengeschichtlichen und praxeologischen Impuls zu setzen vermag.
Philip Steiner