Ludger Grenzmann / Burkhard Hasebrink / Frank Rexroth (Hgg.): Geschichtsentwürfe und Identitätsbildung am Übergang zur Neuzeit. Band 1: Paradigmen personaler Identität (= Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Neue Folge; Bd. 41), Berlin: De Gruyter 2016, VIII + 336 S., 3 Farb-, 22 s/w- Abb., ISBN 978-3-11-049698-7, EUR 119,95
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Der Sammelband, den die Herausgeber im Namen der Spätmittelalter-Kommission der Göttinger Akademie als ersten Teil eines zweibändigen Projekts hier vorlegen, ist das Resultat einer Tagungsserie von 2010 bis 2013, die den spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Identitätsbegriff thematisiert. Historiker verweigern sich gerne diesem anachronistisch und vage anmutenden Begriff. Man muss den Organisatoren deshalb eine gewisse Furchtlosigkeit bei der Aufgabe anrechnen, die Praxis von Identitätsbildungsprozessen im Kontext der Repräsentation von Vergangenheit in der Zeit vom Humanismus bis zum Barock hinterfragen zu wollen. Zentral wurde dabei literarische und bildgestützte Forschungspraxis bemüht, die vor allem auf individuelle und Gruppenidentitäten innerhalb eines sozialen Rahmens fokussiert. Das ist alles, was wir zu Beginn erfahren, denn der Band enthält nur ein sehr kurzes Vorwort, aber keine Einleitung der Herausgeber. Der fehlende Leitfaden wird durch die zwei gliedernden Überschriften - "Paradigmen und mediale Aspekte der Geschichtsschreibung", sowie "Vergangenheitsbilder in der Konstruktion personaler Identitäten" - nur unzureichend ersetzt.
Falls Markus Völkels erster Beitrag solch eine einleitende oder programmatische Funktion für den Rest des Bandes übernehmen sollte, so wird diese Wirkung verfehlt. Dennoch gibt das Kapitel zu Paradigmen der Geschichtsschreibung wichtige Impulse. Zentrale Themen sind hier die Verortung der Geschichtsforschung im Kristallisierungsprozess der wissenschaftlichen Disziplinen und die Diskussion über die Herausformung von Epochenschwellen auf der Grundlage von Luhmanns Begriff der Selbstreferenz im Kontext sozialer Systeme. Völkel identifiziert dabei eine Reihe von "Schwellentexten", von den ersten Bücherkatalogen des Benediktinerabts Johannes Trittenheim (gestorben 1516) bis Gerard Vossius' "Lateinische Geschichtsschreiber" von 1627 und der Formulierung einer methodologischen ars historia bei Nicolas Lenglet Dufresnoy (gestorben 1755). Der Entwicklungsprozess führt dabei von einer unreflektierten Materialsammlung zu einer selbstbewussten humanistischen "Summa" der Historiografiegeschichte. Er gipfelt im Plan einer neuen Methode, Universalhistorie zu schreiben, die Wertungen vornimmt, wodurch "Wissensform zur Disziplin" wird. Diese beeindruckende Revue von 250 Jahren Geschichtsschreibung zielt darauf ab, mit verschiedenen Modellen der Selbstanalyse die Autopoiesis der Geschichtswissenschaft zu erklären. Sie hätte allerdings von einem weniger abstrakten und nominallastigen Stil profitiert, um dem Leser den Einstieg in den Band etwas zu erleichtern.
Die folgenden Beiträge halten sich ebenfalls an die bewusste Reflexion chronologischer Raster. Mit dem Beispiel der Heilsgeschichte als kollektiver Deutungskategorie für die Temporalität der Welt und die Identität ihrer Akteure widerspricht Matthias Pohlig der teleologischen Auffassung von einer "unpolitischen" mittelalterlichen Heilsgeschichtsschreibung. Albert Schirrmeister betont dagegen in seiner Analyse der nordeuropäischen Lokal- und Nationalgeschichtsschreibung, Herrscherbeschreibungen und Kartografien des 16. Jahrhunderts die multiplen Aufgaben solcher Werke für die Definition von identitären Zugehörigkeiten. Eine Verbindung von Heilsgeschichte mit der durch codices picturati visualisierten und historisierten Welt des Sachsenspiegels, der die mündliche Tradierung des Rechts ersetzte, stellt der sehr klar und schlüssig formulierte Aufsatz von Henrike Manuwald dar. "Ordnungsmodelle" und das Problem einer Fortschrittsgeschichte in der Kunsthistorie (Thomas Noll) schließen den ersten Teil ab, ohne dass klar wird, wie die vorgestellten Paradigmen außerhalb der durchaus wertvollen Einzelbeiträge einer Weiterentwicklung der multidisziplinären Renaissance- und Frühneuzeitforschung dienen könnten.
Dieses Defizit wird im zweiten Teil des Bandes nur geringfügig korrigiert. Hier stehen historische Personen, Selbstzeugnisse und Biografik im Mittelpunkt. Die Beiträge zu Alexander dem Großen (von Hartmut Bleumer) und der Rolle Achilles' in Konrad von Würzburgs Trojanerkrieg (von Almut Schneider) versuchen sehr illustrativ, disziplinäre Missverständnisse zwischen Geschichts- und Literaturforschung durch Narrative der personalen Identität der historischen Figuren zu bewältigen. Zwei andere, miteinander verwandte Kapitel zur humanistischen Autobiografik (Karl Enenkel) und zu Ego-Dokumenten von Gelehrten (Gabriele Jancke), gehören mit zu den aussagekräftigsten Beiträgen des Bandes. Beide Autoren demonstrieren die Manipulations- und Legitimationsmechanismen der Respublica Litteraria und ihrer Abhängigkeit von der "Sozialität" und dem Assoziationshorizont ihrer Rezipienten. Die notwendige Rückbindung an Antike und Mittelalter zeigt dabei, wie sehr die Forschung linear-teleologische, aber auch nationale Kategorien zurückweisen sollte, um Varianten der Identitätspolitik der Renaissance- und Barockperiode auf die Spuren zu kommen. Der Band schließt mit einem kirchengeschichtlich-theologischen Beitrag von Berndt Hamm über das Individualgericht Gottes. Obwohl dieser keine neuen Ergebnisse darstellt, schildert er sehr anschaulich den Wandel vom mittelalterlichen Menschen und seiner Furcht vor dem Weltgericht zur Straflogik des Fegefeuers und schließlich zu der auf Erbarmen fokussierten Frömmigkeitslehre einer gegen Häresie kämpfenden Kirche. Zum Schluss stellt noch Jürgen Heidrich den in kaiserlichen Diensten stehenden Organisten Paul Hofhaimer (gestorben 1537) vor, ohne dass allerdings aus diesem biografischen Essay deutlich wird, wie die Fallstudie Einsichten in die Konstruktion frühneuzeitlicher personaler Identität fördern könnte.
Der Band enthält mehrere äußerst interessante Analysen, die die Forschung von Vergangenheits- und Identitätskonstruktion, das Verhältnis von Individuum, Gruppe, Chronologie und Rollenverständnis durchaus befruchten. Obwohl ein nützlicher Index entstand, kann man das leider von einem zusammenfassenden Schlusswort nicht sagen.
Karin Friedrich