Sebastian Rojek: Entnazifizierung und Erzählung. Geschichten der Abkehr vom Nationalsozialismus und vom Ankommen in der Demokratie (= Forum historische Forschung: Moderne Welt), Stuttgart: W. Kohlhammer 2023, 326 S., ISBN 978-3-17-043756-2, EUR 60,00
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Im Jahr 1951 hallten beim Heilbronner Volksfest altvertraute Klänge wider: Die Festzeltkapelle spielte den "Badenweiler Marsch", die Erkennungsmelodie Adolf Hitlers, unter dem Jubel der Menge und zahlreichen Rechten "zum Gruß gereckt" (144). Was der Stuttgarter Historiker Sebastian Rojek für die Nachkriegszeit beschreibt, ereignete sich unlängst ähnlich: Auch auf Sylt intonierte eine lautstarke Gruppe rechtsextreme Parolen, Hitlerbärtchen und
-grüße zeigend. In den folgenden Debatten wurde ein Argument für die Persistenz rechtsextremer Denkweisen heute wie damals vorgebracht: die Sorge um die Demokratisierung der Bevölkerung in Anbetracht einer als unzureichend angesehenen Entnazifizierung.
Die Zeitgeschichte hat sich in den letzten Jahren wieder häufiger den Fragen nach dem Erfolg der Entnazifizierung und ihrem Einfluss auf die Demokratisierung der Bevölkerung gewidmet. Sebastian Rojeks Studie behandelt diese Themen auf anregende Weise. Er analysiert zeitgenössische Erzählungen und Lebensläufe, die im Zuge des Entnazifizierungsverfahrens entstanden sind. Der Historiker untersucht, was und wie unter den Bedingungen des Verfahrens erzählt wurde, welches Bild des NS-Staates daraus konstruiert wurde und welche Auswirkungen dies auf die Demokratie hatte (21). Dabei zeigt er auf, wie damalige Denkweisen bis in die heutige Zeit überdauert haben, etwa in Debatten um die Innere Führung der Bundeswehr oder in rassistischen Sichtweisen auf heutige Flüchtlingsheime. Hervorzuheben ist auch Rojeks Anspruch, die Entnazifizierung nicht nur von ihrem Ergebnis als "Mitläuferfabrik" zu betrachten, sondern sie als offenen Prozess zu verstehen, der einen Kommunikationsraum über die Vergangenheit erst eröffnete. [1]
Die Studie ist in zwei Hauptkapitel gegliedert, ergänzt durch eine Einleitung, eine Hinführung und ein knappes Fazit. Rojek beschränkt seine Analyse räumlich auf den deutschen Südwesten und damit auf die drei Vorgängerländer Baden-Württembergs. Er unterlässt es jedoch, über regionale Identitäten beziehungsweise daraus resultierende Rechtfertigungsstrategien zu reflektieren, etwa die damalige Annahme, dass die NS-Herrschaft im Südwesten aufgrund liberalerer Traditionen hier moderater ausgefallen sei.
Für seine umfassende Studie hat Rojek mehr als 30.000 Meldebögen und Spruchkammerakten ausgewertet. Seine Methode beschreibt er nur grob als qualitativ, jedoch hätte man gern mehr über die Systematik erfahren, nach der er das Material ausgewertet hat. Zusätzlich zieht er Behördenschriftgut, Polizeiberichte, öffentliche Verlautbarungen sowie Eingaben aus der Bevölkerung heran. Der Autor beschränkt seine Analyse auf "normale Deutsche" (26, 177). Es fehlt jedoch eine Reflexion darüber, was einen "normalen" Deutschen ausmacht, insbesondere im Abgleich mit der Gruppe der "Haupttäter", die er explizit aus seiner Untersuchung ausschließt, oder der Perspektive der NS-Opfer, die durch den Zuschnitt nur am Rande in der Studie vertreten sind.
Im ersten Hauptkapitel untersucht Rojek die Erzählungen "von unten" und "von oben", die zur narrativen Bewältigung der Vergangenheit entstanden. Er zeigt auf, wie die Bevölkerung durch Eingaben an die württembergisch-badische Staatsregierung Einfluss auf das im Entstehen befindliche "Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus" nahm. Ein Großteil der Petenten plädierte für individuelle Prüfverfahren, um Sühnemaßnahmen zu verhindern. Diese sollten es den Betroffenen ermöglichen, sich an bereits etablierte Entlastungsnarrative anzuschließen. Bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit existierte ein medial vermittelter Handlungsrahmen, der Argumente für die Darstellung als "Entlastete" lieferte, wie etwa der Verweis auf Widerstandshandlungen oder, wie im Lehrstück Nürnberger Prozesse vorgeführt, schlicht die Leugnung eigener Kenntnisse von NS-Verbrechen.
Der Autor konstatiert, dass die narrative Bewältigung der NS-Diktatur oft in selbst viktimisierender Art und Weise geschah und einer Logik des Aufrechnens folgte. Solch apologetische Elemente trugen zu einem verzerrten Bild des NS-Staates bei, das suggerierte, dass nur wenige aktive Nationalsozialisten das Volk verführt hätten. Mit Blick auf die Reden des SPD-Staatsministers für politische Befreiung in Württemberg-Baden Gottlob Kamm beleuchtet die Studie, wie die Entnazifizierung der Deutschen öffentlich als Quarantäne vom "Nazibazillus" (108) interpretiert wurde. Solche Metaphern der Nachkriegszeit, völkische und nationalistische Denkweisen als zu heilende Krankheit darzustellen, verankerten die deutsche Opfergesellschaft kommunikativ in ihrer Deutung, nur passives Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gewesen zu sein.
Die herangezogenen Polizeiberichte aus den Jahren 1945 bis 1950, die dem Innenressort als Stimmungsberichte aus der Bevölkerung dienten, offenbaren interessante Erkenntnisse über öffentlich geäußerte Relativierungen von NS-Unrecht. So wurden ökonomische Nachteile oder Konsequenzen für ehemalige Parteigenossen, etwa die Entlassung aus dem Arbeitsverhältnis, tendenziell gleichrangig mit Ausgrenzungs- und Vernichtungserfahrungen dargestellt. Diese Quellen dienen auch als Zeugnisse für weit verbreitete rassistische Denkweisen und den persistenten Antisemitismus in den Polizeibehörden sowie in der Bevölkerung. Displaced Persons wurden etwa in einer "Sonderrolle" als Kriminelle und "Parasiten" (139) wahrgenommen.
Sebastian Rojeks Studie bietet auch einen Einblick in die frühe Phase des Rechtsterrorismus. Er beleuchtet die bislang unbekannten Attentatspläne von Siegfried Kabus auf Gottlob Kamm und zeigt, dass bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg ein organisierter Rechtsterrorismus entstand, der durch die Verhinderung einer Aufarbeitung des "Dritten Reichs" motiviert war.
Im zweiten Hauptkapitel analysiert er Meldebögen sowie Spruchkammerakten und unterscheidet die dort abgefassten Lebenslauferzählungen in Konversions- und Kontinuitätsbiografien. Die Mehrheit der Zeitgenossen präsentierte Kontinuitätsgeschichten, in denen sie sich als unpolitisch und damit auch unverantwortlich darstellten. Formen von Selbstmobilisierung und Selbstbeteiligung wurden dabei verschwiegen. Konversionsbiografien, die den Übergang vom nur formalen Nationalsozialisten zum geläuterten Demokraten beschrieben, waren seltener. Nationalsozialisten waren immer nur die Anderen. Rojek argumentiert überzeugend, dass beide Erzähltypen letztlich eine Distanzierung von der NS-Zeit darstellten. So etablierte die Entnazifizierung "neue Sagbarkeitsregeln", die den NS-Staat zur "finsteren Zeit" deklarierten (267) und somit eine nostalgische Rückbesinnung auf das NS-Regime erschwerten. Dies führte zu einer normativen Anbindung an die Demokratie, allerdings mit dem moralischen Makel der deutschen Opferinszenierung, so das abschließende Urteil des Autors.
Sebastian Rojeks Analyse unterstreicht die Bedeutung dieser historischen Phase für die politische Entwicklung in Deutschland. Der Autor zeigt plausibel, dass die Mehrheit der Bevölkerung einen demokratischen Erwartungshorizont adaptierte. Sein Werk bietet einen aufschlussreichen Einblick in die Offenheit des damaligen Prozesses und verdeutlicht, dass eine erneute Hinwendung der Forschung auf die unmittelbare Nachkriegszeit zu weiteren Erkenntnissen über die Demokratisierung führen kann.
Anmerkung:
[1] Lutz Niethammer: Die Mitläuferfabrik. Die Entnazifizierung am Beispiel Bayerns, Berlin / Bonn 1982.
Stefanie Palm