Oliver Kruk: "Nit on meines Capitels Wissen". Praktiken des Informations- und Wissensmanagements in der Verwaltung und Herrschaft des Bamberger Domkapitels, 1522-1623 (= Stadt und Region in der Vormoderne; Bd. 12), Würzburg: Ergon 2024, 437 S., ISBN 978-3-98740-114-5, EUR 114,00
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Keine Abhandlung zur frühneuzeitlichen Reichskirchengeschichte kommt umhin, die Bedeutung der Domkapitel für die Verfasstheit der Fürstbistümer herauszustellen. Nichtsdestotrotz sind eingehende Studien zu den Domkapiteln der einzelnen Diözesen ein Desiderat. Die wenigen vorliegenden Arbeiten konzentrieren sich zudem meist auf die Struktur und politische Bedeutung der Domkapitel und versuchen nicht, die Domkapitel als Element des geistlichen Staates als kulturelles Gebilde zu verstehen. Oliver Kruk unternimmt es in seiner nur leicht überarbeiteten Dissertation, diese Lücke für das Bamberger Domkapitel in der Zeit zwischen 1522 und 1623 zu schließen. Der Verfasser folgt dabei einem praxeologischen Ansatz, der die bisher vor allem im Bereich der Kolonialgeschichte nutzbar gemachte Methodik der Wissens- und Informationsgeschichte auf die frühneuzeitliche "Handlungsgemeinschaft" (39) von Klerikern anwendet. Selbsterklärtes Ziel ist es dabei, "die Verwaltungs- und Herrschaftsgeschichte des Bamberger Domkapitels als Wissensgeschichte begreifbar zu machen" (34). Dazu zieht der Autor hauptsächlich die Überlieferung der Verwaltung des Domkapitels heran.
Die Studie folgt dem Erkenntnisinteresse dabei auf den unterschiedlichen Ebenen der (mediaten) Landesherrschaft, der Archivbildung des Domkapitels, der Arbeit lokaler Amtsträger und der Rolle des Domkapitels im System des Hochstifts. Zwar stellt Kruk zunächst, wie die meisten herkömmlichen Arbeiten, die Bedeutung und Mechanismen des Domkapitels für die hochstiftische Verwaltung und Regierung auf Grundlage der Forschungsliteratur und eigener Erkenntnisse dar. Hier dient diese Beschreibung der (politischen) Funktion und Struktur des Domkapitels jedoch vor allem als Ausgangspunkt, um sich der deutlich seltener untersuchten Rolle des Domkapitels als mediaten Landesherrn anzunähern. Anschaulich verdeutlicht der Autor, wie im 16. Jahrhundert insbesondere im Kontext der Rekatholisierung der Informationsbedarf des Domkapitels über seine Untertanen wuchs und in verschiedenen, teils komplementären, teils sich ablösenden Schriftformen Ausdruck fand.
Diese stark zunehmende Verschriftlichung und der wachsende Informationsbedarf des Domkapitels erforderten dann auch den Aufbau eines Archivwesens: Während in Würzburg die domkapitelsche Überlieferung schlichtweg in das hochstiftische Archiv inkorporiert wurde, vollzog sich in Bamberg die Einrichtung des eigenen Archivs gerade in Abgrenzung zum Fürstbischof. Die Professionalisierung und Ausdifferenzierung - von anfangs zwei als Schlüsselherren beauftragten Domkapitularen, welche als einzige Zugang zu den verschlossen gelagerten Dokumenten hatten, zu einer wachsenden und sich verselbstständigenden Archivbehörde - ermöglichte dem Domkapitel, das Wissen und die Informationen in seinem Sinne zu nutzen.
Hinzu kam, dass das Domkapitel zunehmend alle bisher in lokalen Ämtern und Behörden aufbewahrten rechtsverbindlichen Dokumente an sich zog. Vor Ort verblieben lediglich die Amtsbücher und eventuell angefertigte Kopien der Urkunden. Auf Ebene der lokalen Administration des Domkapitels dagegen konnte die Weitergabe des häufig impliziten und mündlichen Wissens lange Zeit nur durch eine Amtseinführung durch den Vorgänger gesichert werden. Die Tendenz der "Beamten", eigene Arbeitshilfen anzulegen und die zur Prüfung dem Domkapitel vorgelegten jährlichen Rechnungen detailliert und nachvollziehbar auf dem Vorjahr aufbauend zu gestalten, führte im Laufe des 16. Jahrhunderts allerdings zu einer Verstetigung der Verwaltungsabläufe: Die Ämter wurden entpersonalisiert und leichter übertragbar.
Abschließend kehrt der Verfasser zur Bedeutung des Domkapitels für das gesamte Hochstift zurück. Überzeugend legt er dar, dass die umfassenden Mitregierungsansprüche des Domkapitels mangels eines geeigneten Druckmittels kaum gegen den Fürstbischof durchgesetzt werden konnten. Das übliche "Abnicken" der fürstbischöflichen Entscheidungen durch das Domkapitel vermied demnach nicht nur einen Konflikt, der die eigene Ohnmacht hätte offenbaren können, sondern es sicherte vor allem einen formalisierten, da für den Fürstbischof in der Regel problemlosen, Informationsfluss. Für das 16. Jahrhundert zeichnet der Autor die Entwicklung und Institutionalisierung dieses Informationsprozesses nach: Hatte zunächst der Fürstbischof noch selbst die Kapitelsitzungen besucht und dort seine Pläne dargelegt, delegierte er diese Aufgabe später an seinen Sekretär oder Kanzler. Jedoch bedang sich das Domkapitel bald aus, stattdessen von zwei Hofräten informiert zu werden. Zunehmend wurden dazu auch die fachlich für das jeweilige Thema zuständigen Räte deputiert. Auch das Recht des Domkapitels, mit vier Mitgliedern im maximal etwa dreißig Personen großen Hofrat vertreten zu sein, interpretiert der Verfasser als weniger auf Einflussnahme, denn auf Informationsgewinnung ausgerichtet.
Insbesondere ist es Kruk ein Anliegen, die herkömmliche Bewertung des Domkapitels als Hemmschuh auf dem Weg zum modernen Staatswesen zu revidieren. Im Gegenteil habe das Domkapitel ausgleichend und stabilisierend auf das Hochstift gewirkt. Gerade in den Sedisvakanzen sei das Domkapitel keineswegs auf Herrschaftsgestaltung, sondern auf "Übergangsmanagment" (297) aus gewesen. Ob unter diesen Begriff nun tatsächlich jegliche Entscheidung des Domkapitels während einer Sedisvakanz glaubhaft subsumiert werden kann, erscheint zwar zweifelhaft. Jedoch verfängt die Argumentation, dass das Domkapitel als eine generationenübergreifende Korporation der fränkischen Ritterschaft im Zweifel eine langfristigere Perspektive einnahm als mancher Fürstbischof ohne dynastischen Nachfolger. Da das Domkapitel gleichzeitig über das am weitesten zurückreichende Wissen in seinem Archiv verfügt habe, habe es sich durch den Wissensvorsprung im Diskurs als Wahrer des Althergebrachten inszenieren können.
Zusammenfassend konstatiert Kruk, dass die kontinuitätsstiftende Rolle des Domkapitels durch parallel ablaufende, nicht intendierte Institutionalisierungsprozesse verstärkt worden sei: So habe sich die Rolle des Domkapitels als mediater Landesherr durch die Konfessionalisierung und die Konkurrenz zu Würzburg stabilisiert. Allerdings sei der Aufbau des eigenen Archivs nicht einem Plan gefolgt, vielmehr sei dieser durch die Zunahme der Schriftlichkeit bedingt gewesen, die auch die Entpersonalisierung von Ämtern und Behörden begünstigt habe. Schließlich habe etwa die beschriebene Formalisierung des Informationsprozesses zur Festigung der politischen Rolle des Domkapitels beigetragen. Die einzelnen Fortschritte im Wissensmanagement, die diese langfristigen Entwicklungen verursachten, seien aber jeweils Reaktionen auf konkrete Probleme gewesen, deren langfristige Konsequenzen für die Zeitgenossen nur bedingt einschätzbar gewesen seien.
Ob die feine Gliederung der Arbeit in 49 Unterkapitel zielführend ist, erscheint ob der häufigen Vorwegnahmen von Forschungsergebnissen folgender Kapitel fraglich. Abgesehen davon eröffnet die innovative Methodik Kruks neue Perspektiven auf die inneren Logiken des facettenreichen Handelns eines frühneuzeitlichen Domkapitels in seinen diversen Rollen. Die vorliegende Studie bereichert nicht nur die Forschung zur geistlichen Staatlichkeit und zur Wissens- und Informationsgeschichte, sondern auch zur Staatsbildung und mediater Landesherrschaft sowie zur Verfasstheit des Reiches insgesamt. Der Autor kann somit für sich in Anspruch nehmen, "geistliche Staaten nicht nur als politische, sondern auch als kulturelle Gebilde zu verstehen" (354).
Sven Dittmar