Oliver Kruk / Michaela Schmölz-Häberlein (Hgg.): Sündige Seelen. Geistliche und deviantes Verhalten im Hochstift Bamberg des 18. Jahrhunderts (= Stadt und Region in der Vormoderne; Bd. 13), Würzburg: Ergon 2024, 309 S., ISBN 978-3-98740-133-6, EUR 79,00
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Michaela Schmölz-Häberlein / Mark Häberlein (Hgg.): Halles Netzwerk im Siebenjährigen Krieg. Kriegserfahrungen und Kriegsdeutungen in einer globalen Kommunikationsgemeinschaft, Wiesbaden: Harrassowitz 2020
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Oliver Kruk: "Nit on meines Capitels Wissen". Praktiken des Informations- und Wissensmanagements in der Verwaltung und Herrschaft des Bamberger Domkapitels, 1522-1623, Würzburg: Ergon 2024
Das Vorwort betont zu Recht, dass Klerusvergehen in der deutschen Geschichtswissenschaft bisher kaum eine Rolle gespielt haben. Der Rezensent hat seit 2011 in zahlreichen Publikationen immer wieder auf diese Forschungslücke hingewiesen. [1] Inzwischen aber nimmt die historische Analyse von in der Frühneuzeit angefallenen "Kriminalakten" immer mehr Fahrt auf. In diese Tendenz ist auch der vorliegende Band einzuordnen.
Die hilfreiche Einleitung (10-38) von Oliver Kruk und Michaela Schmölz-Häberlein führt den Leser in die komplizierte Gemengelage kirchlicher Rechtsverstöße und ihrer Ahndung anhand der im Hochstift Bamberg etablierten Justizstrukturen ein. Denn anders als etwa in Freising oder Regensburg unterstand die geistliche Gerichtsbarkeit in Bamberg dem Domkapitel mit dem Domdekan an der Spitze. Beide Autoren ergreifen Partei für den sozialhistorischen Begriff der "Devianz", um das kontinuierliche Handeln einer Personengruppe zu beschreiben, und setzen Devianz damit von der Singularität der Delinquenz ab. In der Analyse der Sekundärliteratur fehlt aber nicht nur Hillard van Thiessens eindrucksvolle Studie zur Ambiguität, [2] sondern durchweg auch nicht-deutsche Fachliteratur. Das ist unverständlich, weil der angeführte Skandal des Jesuiten Jean B. Girard (21) extrem gut erforscht ist und man nicht auf veraltete Darstellungen zurückgreifen müsste. [3] Unreflektiert bleibt, ob es überhaupt so etwas wie "einvernehmliche" Beziehungen zwischen einem Kleriker und einem jungen Mädchen geben konnte, da der Priester eine überragende soziale Stellung einnahm (29), und ob die den Landkapiteln vom Bischof aufgetragenen Visitationen überhaupt erfolgreich dabei waren, deviantes Verhalten einzuschränken (33), da Quellen auf die Zurückhaltung der Dekane bei Denunziationen hinweisen.
Katharina Kempski referiert die Geschichte der bischöflichen Korrektionsanstalt in Schlüsselau von 1755 bis 1818 (39-79). Die verurteilten Priester, die dort untergebracht waren, wurden als "Demeriten" bezeichnet. Man erhoffte sich von ihren Kurzaufenthalten eine Besserung ihres Verhaltens. Schulden, Alkoholismus, Gewalttätigkeit und Aberglauben scheinen die häufigsten Gründe für ihre Suspendierung gewesen zu sein, was darauf hinweist, dass sexuelle Normverletzungen anders geahndet wurden. Die Existenz des bischöflichen Kerkers für schwere Verbrechen auf der Bamberger Fronfeste wird aber nur beiläufig erwähnt, nicht weiter erklärt oder mit dem Korrektionshaus in Verbindung gesetzt (52). Dass man im 18. Jahrhundert den Insassen, die in komfortablen Zimmern lebten (71), ausgerechnet jansenistische Schriftsteller wie Pierre Nicole zur geistlichen Erbauung gab, ist erstaunlich (62), wird aber von der Autorin weder erkannt noch gewürdigt. Dass die Zimmer abgeschlossen werden "konnten", ist zwar ein wichtiges Detail, wichtiger aber wäre gewesen zu erfahren, ob sie auch verschlossen wurden und die Demeriten daher wirklich in ihrer Freiheit beschränkt waren (61). Auch die Unterbringung eines Kapuziners (56) erscheint ihr nicht weiterer Analyse wert, obwohl dies gerade aufgrund der massiven Kritik an den Bettelorden im 18. Jahrhundert und der Insistenz des Ordens auf seiner Exemtion besonders herauszuheben wäre.
Gänzlich anders gelagert sind die Taten der von Alissa L'Abbe untersuchten Geistlichen aus dem Jahr 1776, die sich als Schatzsucher hervortaten (110-139) und denen daher abergläubische Riten und Magie vorgeworden wurden. Freilich wäre genauer zu differenzieren, welche Objekte für die Schatzsuche benutzt wurden und welche wirkliche "liturgische Elemente" waren oder enthielten, denn Liturgie ist der offizielle Gottesdienst der Kirche, zu dem eine Christophorusmedaille einfach nicht gehört. Letztere war lediglich eine "Sakramentalie".
Michaela Schmölz-Häberlein widmet sich dem sexuellen Missbrauch (165-199) durch den Kaplan Johann Blasius Ebertsch (1765-1831). Solche Fälle sind selten derart ausreichend dokumentiert. Die Autorin zeigt, dass die Anklage den Missbrauch eines 15-jährigen Mädchens nicht weniger scharf ahndete als den Verkehr mit einer volljährigen Frau. Auch hier ist die Idee eines "gewissen Einvernehmens" in der sexuellen Beziehung (183; eine lavierende Einordnung 185) unreflektiert in die Vergangenheit projiziert worden. Bei der Lektüre gewinnt man den Eindruck, als ob die Protokolle des Falles die kanonistischen Klassifizierungen sexuellen Missbrauchs vermieden haben (s. Lehner, Inszenierte Keuschheit), was durchaus bemerkenswert wäre. Es ist aber auch denkbar, dass die lateinischen Fachbegriffe nicht als wichtig erkannt und daher weggelassen wurden (183). In der kirchlichen Rechtsprechung war nämlich die Art des "sexuellen Kontaktes" von entscheidender Bedeutung für die Beurteilung des Vergehens: Handelte es sich um eine vaginale oder anale Penetration, lag keine Penetration vor, kam es zum Samenerguss oder nicht etc. Man kann nur erschließen, dass es in diesem Fall zum vaginalen Verkehr kam (184).
Aus literaturgeschichtlicher Perspektive untersucht Miriam Mulzer Liebesbriefe des Kaplans Neubauer vom Ende des 18. Jahrhunderts, die sie auch in mustergültiger Edition unter Mitarbeit der oben angeführten Autoren vorlegt (201-272). Dieser Beitrag ist vielleicht der interessanteste des ganzen Bandes, denn derartige Quellen sind selten und es ist erfreulich, dass man sich entschlossen hat, diese vollumfänglich zugänglich zu machen. Das Kapitel erhellt, dass sich Neubauer Hoffnungen machte, dass die katholische Kirche durch den Aufstieg Napoleons in die Enge getrieben werde, über kurz oder lang den Zölibat aufzuheben (211). Nach seiner Verhaftung redete sich Neubauer darauf hinaus, seine Liebesbriefe seien allesamt einer erotischen Fantasie entsprungen. Er leugnete also eine reale sexuelle oder romantische Beziehung zu seiner Angebeteten (225). Die Briefe waren in der Tat auffallend direkt - er bat etwa um die Zusendung einiger Schamhaare -, und die Autorin weist zu Recht auf erstaunliche Parallelen in pornographisch-erotischer Literatur hin, die darauf hindeuten, dass sich der Kaplan die Briefe zusammenkopiert hat. Allerdings stellt sich der Rezensent die Frage, ob die Nennung der Quelle "Geschichte nach dem Leben" nicht eher auf Anne Fullers gleichnamiges Buch hinweist denn auf Scheffners "Gedichte nach dem Leben" - oder ob ein Tippfehler vorliegt (225). Die Analyse der in den Liebesbriefen erwähnten Begriffe und ihre kontextuelle Erschließung, wie etwa des coitus interruptus (238), sind durchweg vorbildlich.
Anmerkungen:
[1] Ulrich L. Lehner: Enlightened Monks. The German Benedictines 1740-1803, Oxford 2011, 103-120; Ders.: Monastic Prisons and Torture Chambers. Crime and Punishment in Central European Monasteries, 1600-1800, Eugene, OR, 2013; Ders.: Mönche und Nonnen im Klosterkerker. Ein verdrängtes Kapitel Kirchengeschichte, Kevalaer 2015; und zuletzt Ders.: Inszenierte Keuschheit. Sexualdelikte in der Gesellschaft Jesu im 17. und 18. Jahrhundert, Berlin 2023. https://www.degruyter.com/document/isbn/9783111311142/html.
[2] Hillard van Thiessen: Das Zeitalter der Ambiguität. Vom Umgang mit Werten und Normen in der Frühen Neuzeit, Köln 2021.
[3] Mita Choudhury: The Wanton Jesuit and the Wayward Saint. A Tale of Sex, Religion, and Politics in Eighteenth-Century France, University Park 2015.
Ulrich L. Lehner