Anna Corsten: Unbequeme Erinnerer. Emigrierte Historiker in der westdeutschen und US-amerikanischen NS- und Holocaust-Forschung, 1945-1998 (= Transatlantische Historische Studien; Vol. 62), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2023, 423 S., 15 s/w-Abb., ISBN 978-3-515-13196-4, EUR 72,00
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Die Frage nach dem Wie und Warum des Mordes an den Juden hat Generationen von Historikern - und zunehmend Historikerinnen - nicht losgelassen. Jede Generation sucht nach neuen, dem wachsenden Erkenntnisstand Rechnung tragenden Antworten, und doch türmen sich hinter den Antworten neue Fragen auf. Warum dies so ist, macht diese Arbeit der Historikerin Anna Corsten deutlich. Sie ging aus einer durch Dirk van Laak angeregten Jenaer Dissertation hervor.
Es ist nicht das erste Buch zum Thema; erinnert sei nur an Arbeiten aus den 1980er Jahren von Heinz Wolf und Peter Thomas Walther. Die Holocaust-Forschung war, trotz des Auschwitz-Prozesses vierzehn Jahre vorher, erst durch die gleichnamige Mini-Fernsehserie 1979 in der Bundesrepublik (und dies gilt sogar für die USA) unter diesem Namen in ein kollektives Bewusstsein gerückt. 1986 war dann der bundesdeutsche Historiker-Streit über den angeblichen "kausalen Nexus" zwischen Bolschewismus/Stalinismus und Faschismus/Nationalsozialismus auf starkes außerwissenschaftliches Interesse gestoßen. Damals standen noch zahlreiche Zeitzeugen, auch Historiker, auskunftsbereit zur Verfügung, was heute, von den Ausnahmen Gerhard Weinberg und Saul Friedländer abgesehen, leider nicht mehr der Fall ist.
Doch öffnete erst der sich danach vollziehende Generationswechsel einige Denkblockaden. Die Generation der Täter, Opfer und Zuschauer trat, um einen bekannten Titel Raul Hilbergs zu zitieren, von der Bühne des Geschehens ab. Mit dem Abtritt derjenigen Überlebenden, die als Historiker Wahn und Kalkül des Völkermordes zu begreifen suchten, aber besteht die Gefahr, dass ihre aus Leid und Verstand geborenen Erkenntnisse allmählich zum Teil verloren gehen. Dem entgegenzuwirken, hat sich dieses ungemein wichtige Buch zur Aufgabe gesetzt. Die Argumente sind klar vorgetragen, das Buch ist insgesamt flüssig geschrieben, wobei sich der Rezensent aber mit der Gender-Sprache nicht anfreunden kann.
Im Zentrum stehen Leben und Werk von elf Historikern: Wolfgang (George) Hallgarten, Hajo Holborn, Adolf Leschnitzer, Hans Rosenberg, Henry Friedlander, Raul Hilberg, Georg G. Iggers, George Mosse, Fritz Stern, Herbert A. Strauss und Gerhard L. Weinberg - ausschließlich Männer; es gab keine amerikanische Antipode zur Engländerin Gitta Sereny. Sie alle, mit Ausnahme des aus Wien stammenden Hilberg, waren gebürtige Deutsche. Mit der Ausnahme von Hajo Holborn, der jedoch eine jüdische Ehefrau hatte, waren sie Juden, wobei Rosenberg und Stern protestantisch getauft waren. Die vier Erstgenannten hatten ihre Ausbildung noch in der Weimarer Republik erfahren, die anderen in den USA, teilweise zuvor in England. Sie alle, mit Ausnahme von Strauss und Friedlander, gelangten rechtzeitig ins Exil; Strauss konnte erst 1942 aus Deutschland in die Schweiz flüchten; Friedlander überlebte die Barbarei in Deutschland und wanderte 1947 in die USA aus. So sehr jede Gruppenbiographie sich auch beschränken muss, so sehr verwundert das Fehlen von Walter Laqueur. Zwar stieß er nach einer Vielzahl von Büchern zum Zionismus, zur Geschichte des Terrorismus und zur sowjetischen Geschichte und Gegenwart erst spät, um 1980, zur Holocaust-Forschung, die er jedoch seitdem mit zahlreichen Arbeiten bereichern konnte. Nach Stationen in Palästina und England gelangte Laqueur auch erst relativ spät, 1965, in die USA. Dies alles wird aber wohl durch die Tatsache mehr als aufgewogen, dass er schon sehr früh die russischen und baltendeutschen Wurzeln des Faschismus und Nationalsozialismus behandelte; ein Thema, das von der Forschung lange Zeit wie auch später nur wenig Beachtung erfuhr.
Die Protagonisten des Buches wurden nach einem längeren, widerspruchsvollen Prozess von unerbetenen Außenseitern zu anerkannten, schließlich führenden Vertretern ihres Faches. Dies gilt nicht nur für die Bundesrepublik, sondern auch für die USA, wo in der Behandlung des Antisemitismus in Forschung und Lehre der Frage nicht auszuweichen war, wie die Ablehnung der Judenfeindschaft mit der Akzeptanz des Rassismus gegen Afroamerikaner durch beträchtliche Teile der Gesellschaft vereinbar war. Es nimmt nicht wunder, dass sich auch unter Historikern Aktivisten der Bürgerrechtsbewegung befanden; im Buch werden Georg Iggers und seine noch lebende Frau Wilma dafür gewürdigt.
Nach einem ausführlichen Einleitungskapitel ist je ein Abschnitt des Buches den beiden Historiker-Generationen gewidmet. Dabei zeigt sich, dass die Motive der ersten Generation, sich den Wurzeln und Wirkungen von Nazi-Judenhass zuzuwenden, neben persönlich-beruflichen Überlegungen sehr stark vom Wunsch bestimmt war, zur Demokratisierung im Nachkriegs-Deutschland eigene Beiträge zu leisten (dies betraf auch Leschnitzer, der von der Ausbildung her kein Historiker, sondern Literaturwissenschaftler und Pädagoge war). Die Laufbahnwege reichten dabei von der fast reibungslosen Integration Holborns (der Rezensent wird bei der Lektüre den Verdacht nicht los: auch, weil dieser Nichtjude war) bis zum dornigen Lebenspfad Hallgartens, der als bekannter und bekennender Marxist erst im Alter von 71 (!) Jahren Professor wurde. Hans Rosenberg, der nach Kriegsende eine mögliche Berufung in Deutschland ausschlug, als Emeritus aber zurückkehrte, wurde zum "geistigen Stammvater" der modernen westdeutschen Sozialgeschichtsschreibung (99). Jürgen Kocka, der ihn mit diesen Worten würdigte, wie auch Hans Ulrich-Wehler waren sich natürlich der paradoxen Situation bewusst, dass hier ideengeschichtlich und methodisch ein "Re-Import" erfolgen musste, da die erste Generation der westdeutschen Nachkriegs-Historiker, anders als die Politikwissenschaftler, sich inhaltlich noch nicht konsequent vom vordemokratischen Denken, so das harte Urteil von Georg Iggers, gelöst hatte. Dies schuf Hindernisse bei der Rezeption, Übersetzung und Verbreitung von Büchern, die nach den Verantwortlichen für Faschismus und Judenmord fragten.
Die älteren Emigranten wurden in der Bundesrepublik zumeist als ausgewanderte Deutsche wahrgenommen, zumal sie sich bis zuletzt im Deutschen sicherer bewegten als im Englischen (55). Für Friedlander, Hilberg, Iggers, Mosse, Stern, Strauss und Weinberg gab (und gibt es im Falle Weinbergs) natürlich keinerlei Sprachprobleme. Sie schrieben ihre wichtigen Arbeiten von Beginn an in Englisch. Über die Traditionskritik der älteren Historiker hinaus warfen sie neue Fragestellungen auf, die das vierte Kapitel behandelt.
Darin geht es über Fragen der Laufbahn-Wege und der Sozialisation hinaus um die Rezeption der Arbeiten dieser genannten Forscher in der Bundesrepublik und (etwas weniger ausführlich) auch in den USA. Die Autorin zeigt, wie z.B. Raul Hilbergs Dissertation (bei Franz Neumann) über die Vernichtung der europäischen Juden zwar 1955 einen Preis erhielt, aber nach einem zermürbenden Hin und Her erst 1961 veröffentlicht wurde. Ein recht unsachliches Negativ-Gutachten von Hannah Arendt, in dem sie behauptete, in Hilbergs voluminöser Arbeit stecke inhaltlich kaum Neues, trug zu dieser Verzögerung bei. Erst 1982 erschien in einem Westberliner Kleinverlag eine deutsche Übersetzung, und vor allem dem Einsatz von Walter Pehle war es zu verdanken, dass das Buch dann in drei Bänden in Fischers "Schwarzer Reihe" eine weite Verbreitung erfuhr. Die Rezeption wandelte sich über die Jahrzehnte total: Erschienen während zweier Jahrzehnte kaum Rezensionen oder sonstige Bezüge auf das Buch, galt es später mit vollem Recht als der Klassiker der Forschungsliteratur. Erst in jüngster Zeit durfte, so Anna Corsten, Saul Friedländers zweibändige Geschichte des Holocaust ihm diesen Rang streitig machen, doch behält Hilbergs Werk einen hohen Stellenwert. Hilberg zeigte genauer als bisher bekannt die umfassende arbeitsteilige Beteiligung der verschiedenen Tätergruppen am Massenmord in der Art ineinandergreifender Rädchen. Diese funktionalistische Interpretation aber wurde zum Teil missverstanden, als hätte Hilberg die Täter des Judenmordes entpersönlicht. Anna Corsten zeigt überzeugend, dass dem nicht so war.
Nicht weniger prägnant schildert sie die Konflikte um den Platz jüdischer und nichtjüdischer Opfergruppen im System der Vernichtung. So waren für Henry Friedlander die Sinti und Roma eine den Juden gleichzustellende Opfergruppe; sie seien, hielt er Kritikern entgegen, nicht nur als "asoziale Gruppe", sondern wie die Juden als "mindere Rasse" der Ermordung preisgegeben. Diese und andere Auseinandersetzungen untersucht die Autorin mit einem bemerkenswerten Gespür für Nuancen und nähert sich lange tabuisierten Themen ohne einen Deut an Besserwisserei. Kulturgeschichtliche Fragestellungen, in je unterschiedlicher Weise z.B. von Georg Iggers oder George Mosse, früh auch von Fritz Stern aufgeworfen, sorgten für eine Verbreiterung des Wissens und des Bewusstseins dafür, wie tief die Wurzeln der Nazi-Ideologie in den verschiedenen Klassen, Schichten und Gruppen lagen und unter welchen Bedingungen Vorurteile abgerufen werden konnten.
In ihrer Beurteilung des zeitweiligen Konfliktes zwischen Georg Iggers und dem DDR-Historiker Ernst Engelberg irrt Anna Corsten allerdings. Unzutreffend schreibt sie, Iggers' kritischer Blick auf die deutsche Geschichte sei - laut Engelberg - noch immer indirekt von jüdischen "Emigrationsressentiments" geprägt (144f.). Engelberg hatte im Mai 1986 an Iggers jedoch von "unseren Emigrantenressentiments des Jahres 1945", also den gemeinsamen einstigen Ressentiments geschrieben. Von Juden war keine Rede. Eine Kopie des Briefwechsels befindet sich im Besitz des Rezensenten, der mit Georg Iggers wie mit Ernst Engelberg befreundet war. Der Verfasser dieser Zeilen legt Wert auf die Feststellung, dass antijüdische Stimmungen beim antifaschistischen Widerstandskämpfer Engelberg nie eine Rolle spielten. Iggers und Engelberg legten ihren Streit trotz Unterschieden in manchen Fragen übrigens bei. Dies war zuletzt auf einer Tagung am 13. Juli 2001 in Potsdam zu beobachten.
Diese Kritik ändert nichts am überaus positiven Gesamteindruck des Buches, das auf enormen Archiv- und gedruckten Beständen beruht. Manchmal hätte man sich Informationen über die Hilfe von Lebenspartnerinnen gewünscht, ohne die manche Historikerlaufbahn wohl so nicht geglückt wäre. Aber zu berichten ist nur, was das Material hergibt. Unbedingt hervorzuheben ist, dass der Franz Steiner Verlag die PDF-Datei des Textes kostenfrei ins Internet gestellt hat, was seiner Verbreitung sehr dienlich sein dürfte.
Mario Keßler