Rezension über:

Kathleen Burrey / Karl Piosecka (Hgg.): Pyrmont im 18. Jahrhundert. Zum grenzüberschreitenden Potenzial eines Kurorts zur Zeit der Aufklärung, Münster: Aschendorff 2024, 276 S., 27 s/w-Abb., ISBN 978-3-402-24982-6, EUR 48,00
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Rezension von:
Simone Loleit
Universität Duisburg-Essen
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Simone Loleit: Rezension von: Kathleen Burrey / Karl Piosecka (Hgg.): Pyrmont im 18. Jahrhundert. Zum grenzüberschreitenden Potenzial eines Kurorts zur Zeit der Aufklärung, Münster: Aschendorff 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 3 [15.03.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/03/39103.html


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Kathleen Burrey / Karl Piosecka (Hgg.): Pyrmont im 18. Jahrhundert

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"Das gesellschaftliche Leben, an einem so schönen Orte auf dem Lande, in der besten Jahrszeit, bey so großem Zusammenflusse von Menschen jedes Standes, jeder Art und jeder Weltgegend, wo alles zum Vergnügen und zur Zerstreuung führt und absichtlich führen soll: kann nichts anders als großen Reiz und Annehmlichkeiten haben." [1] In diesem Zitat aus Heinrich Matthias Marcards "Beschreibung von Pyrmont" (1784) scheint die Programmatik eines idealtypischen Kurbads des 18. Jahrhunderts wie in einem Brennglas auf: ländliche, landschaftlich reizvolle Lage verbunden mit einem urban anmutenden Unterhaltungsangebot, in dem sich ein überregionales Publikum zu Heilzwecken wie zum Vergnügen aufhielt und, idealiter ständeübergreifend, miteinander kommunizierte.

Um die Rolle bzw. Inszenierung Pyrmonts als "Kommunikationszentrum der Aufklärung" (2) vielschichtig zu beleuchten, verfolgt der auf die vom Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit (IKFN) ausgerichtete Tagung "Bad Pyrmont - ein Ort ohne Grenzen?" (28.-30.09.2022) zurückgehende Sammelband einen interdisziplinären Ansatz. [2] Mit den Beiträgen werden neue Perspektiven erschlossen, die sich vom sozialhistorischen Paradigma der Erforschung der Badereisen des 18. Jahrhunderts lösen. Das traditionelle Interesse an besonders prominenten Gästen des Kurorts (Möser, Nicolai, Goethe, von Kotzebue, Lavater u.a.) wird auch im vorliegenden Band bedient, allerdings mit dem Fokus auf gesellige Aktivitäten, Kommunikationsnetzwerke und Genderaspekte. Vom theoretischen Ansatz her spielt bandübergreifend der auf Foucault zurückgehende Begriff der Heterotopie, speziell auch angewendet auf Pyrmont als "diskursiven 'Topos'" (5), eine zentrale Rolle. Damit wird ein in der Kurortforschung bereits etablierter, produktiver Untersuchungsansatz mit Gewinn weiterverfolgt. [3]

Die an den Anfang gestellten Überblicksdarstellungen von Ute Lotz-Heumann (11-44) und Anett Lütteken (45-69) betrachten die Kurorte des langen 18. Jahrhunderts als multifunktionale und plurimediale Kommunikationszentren adliger und bürgerlicher Eliten und Teil der aufklärerischen Medienlandschaft (Lotz-Heumann) sowie mit Blick auf alltägliche und kommunikationsbezogene Grundmuster der "Kurwelt(en) des 18. Jahrhunderts". (51) (Lütteken) In den folgenden beiden Beiträgen verlagert sich der Untersuchungsfokus auf den medizinisch-therapeutischen Bereich: Dieter Alfter (71-88) bietet einen diachronen Überblick über die natürlichen Heilmittel Pyrmonts; Reinhild Lohan (89-116) widmet sich dem im philosophisch-naturwissenschaftlich-medizinischen Diskurs um 1800 verankerten Begriff der 'Lebenskraft' in seiner Ausformung durch den Arzt Christoph Wilhelm Hufeland und seiner Relevanz für die Bäderheilkunde.

Die nächsten drei Beiträge beschäftigen sich unter verschiedenen Gesichtspunkten mit Marcards "Beschreibung von Pyrmont" (1784). Astrid Köhler (117-136) zeigt im Vergleich mit dem bis dahin maßgeblichen Brunnenführer des Arztes Johann Philipp Seip auf, dass Marcard ein zukunftsweisendes "sozialmedizinisches Konzept von Gesundheit" (132) vertritt. Sandra Markewitz (137-152) geht der "Frage nach der Utopizität des Bades als Raum der Heilung nach" (139), lotet hierfür die Grenzen des Foucault'schen Heterotopiebegriffs aus und diskutiert, inwiefern im Sinne Ernst Blochs von einer Utopie zu sprechen wäre. Karl Piosecka (153-175) erörtert mittels eines close reading, dass dem ersten Band von Marcards Pyrmont-Buch ein "intellektuelles Programm, das die Sphäre des Sozialgesellschaftlichen mit dem Ästhetischen verknüpft" (156), zugrundeliege. Der Beitrag von Martin Rector (177-197) rückt die Institution des Pyrmonter Kurtheaters, welches z.B. dem Erfolgsautor August von Kotzebue eine Bühne bot, in den Blick und setzt sich in vier Fallstudien mit dem lokalen Theaterbetrieb um 1800 auseinander.

Am Schluss des Sammelbandes stehen Beiträge, die sich mit den Pyrmont-Aufenthalten von Jenny von Voigts, geb. Möser, und denen ihres berühmten Vaters Justus Möser beschäftigen. Die als Herausgeberin der "Patriotischen Phantasien" in Literatenkreisen bekannte Jenny von Voigts reiste offiziell als Begleiterin ihres Vaters mit ins Kurbad; die von Brigitte Erker (199-234) u.a. anhand von Kurlisten, Logisverzeichnissen, Briefen und Tagebüchern recherchierten potenziellen und realen Begegnungen zeichnen das Bild einer aufgrund ihrer Bildung und Belesenheit vielbeachteten Frau. [4] Justus Möser ermöglichten die Kuraufenthalte in Pyrmont einen überregionalen gelehrten Austausch, den die Geselligkeit im heimischen Osnabrück nicht bieten konnte. Jennifer Staar (235-250) exemplifiziert dies in einer Analyse des "umfangreiche[n] Kommunikationsprozess[es]" (249), der mit dem "Diskurs über eine Medizinalordnung für Osnabrück" (ebd.) einherging. Dass Möser aus seinen Kuraufenthalten auch Anregungen für Reformen in seiner Heimatstadt gewann, zeigt Kathleen Burrey (251-270) am Beispiel des Strumpfstrick-Projektes, eines Beschäftigungs- und Resozialisierungsprogramms für Strafgefangene.

Gesamt betrachtet überzeugt der Band durch die hervorragend recherchierten Einzelbeiträge, das stimmige Gesamtkonzept und das ausgewogene Verhältnis von Überblicksdarstellungen und Detailanalysen. Die an der Schnittstelle von Literatur-, Geschichts- und Kulturwissenschaft zu verortenden Beiträge eint die Frage nach dem Kurort als 'Möglichkeitsraum' oder Heterotopie, der facettenreich und auf Basis eines vielfältigen Quellenmaterials nachgegangen wird. Auch die ansprechende und instruktive Ausstattung des Bandes mit einer Reihe von Abbildungen soll nicht unerwähnt bleiben.


Anmerkungen:

[1] He[i]nrich Matthias Marcard: Beschreibung von Pyrmont. Erster Band, Leipzig 1784, 51.

[2] Siehe hierzu auch das Standardwerk von Reinhold Kuhnert: Urbanität auf dem Lande. Badereisen nach Pyrmont im 18. Jahrhundert, Göttingen 1984.

[3] Vgl. u.a. Ute Lotz-Heumann: Der Kurort als Heterotopie des 18. Jahrhunderts und der Sattelzeit. Die Entstehung einer bürgerlichen Kultur und Gesellschaft, Habil. Berlin 2010; Astrid Köhler: Pyrmont von verschiedenen Seiten betretend: Zum literarischen Umgang mit der Heterotopie Badeort um 1800, in: Publications of the English Goethe Society 84/1 (2015), 48-62; Ute Lotz-Heumann: The German Spa in the Long Eighteenth Century. A Cultural History, New York 2022.

[4] In diesem Zusammenhang sei auf einen aktuellen Beitrag zu einer anderen namhaften Pyrmont-Reisenden verwiesen: Kristine Dyrmann: Spa Diplomacy. Charlotte Schimmelmann at Bad Pyrmont, 1789-94, in: The International History Review 44/5 (2022), 1035-1047.

Simone Loleit