Albrecht Classen (ed.): Bodily and Spiritual Hygiene in Medieval and Early Modern Literature. Explorations of Textual Presentations of Filth and Water (= Fundamentals of Medieval and Early Modern Culture; Vol. 19), Berlin: De Gruyter 2017, VII + 615 S., 4 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-052329-4, EUR 129,95
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Mittelalter und Frühe Neuzeit zeichnen sich nach landläufiger Meinung nicht durch Sauberkeit und Hygiene aus - ein Vorurteil, dass gleichermaßen auf Unkenntnis, eher schmaler Quellenlage und vergleichsweise geringer Forschungsaktivität beruht. Vormoderne Körperpflegepraktiken, Hygiene- und Behandlungsstandards werden zwar seit einiger Zeit verstärkt untersucht, gleichwohl wurde ihnen bislang nicht ähnlich viel Aufmerksamkeit gewidmet wie etwa der Ereignisgeschichte oder der Hochkultur der jeweiligen Epoche. Insofern erfüllt der hier zu besprechende Band ein Forschungsdesiderat, wobei insbesondere die Kombination von (medizin)historischen, kulturgeschichtlichen und literaturwissenschaftlichen Fragestellungen als gelungen bezeichnet werden kann.
Interdisziplinär wird dabei die Annahme geteilt, dass für das Thema zentrale Begriffe wie etwa Schmutz, Dreck, Ekel, Sauberkeit, Wohlbefinden, Gesundheit und Krankheit in ihrem Gehalt jeweils kulturell geprägt sind. Welche Vorstellungen in Mittelalter und Früher Neuzeit mit diesen Begriffen verbunden waren, wird in der Auseinandersetzung mit Sach- und Fachtexten aus den Bereichen Medizin, Diätetik, Balneologie und Hydrologie, monastischen, moraldidaktischen, juristischen und nicht zuletzt fiktionalen Texten ergründet.
Albrecht Classens ausführliche Einleitung bietet einen querschnittartigen Überblick über das Gesamtthema des Bandes und ermöglicht so auch einem fachfremden Publikum einen allgemeinen Einstieg in das Thema. Die aus der Tagung "Hygiene, Medicine, and Well-Being in the Middle Ages and the Early Modern Age" (University of Arizona, 1.-3. Mai 2015) hervorgegangenen Beiträge widmen sich jeweils mit hochrangiger Fachexpertise speziellen Fragestellungen. Insgesamt decken die Beiträge den Zeitraum vom 9. bis zum 17. Jahrhundert ab.
Ein gewisses Manko ist der eher unstrukturiert wirkende Aufbau, der sich wohl an der Chronologie der behandelten Texte orientiert, aber keine thematischen Rubriken eröffnet. Verschiedene Beiträge gehen auf die Vorstellung von Krankheit und Heilung als (meta)physischem, psychosomatischem und spirituellem Prozess ein. Erin S. Lynch etwa fokussiert in seinem Beitrag zur räumlichen Ausgrenzung der Leprakranken im Mittelalter neurologisch-psychosomatische Ursachen der oft als Krankheitssymptom erwähnten Raserei.
Auf übersinnliche Ursachen von Krankheit bezieht sich Warren Tormeys Untersuchung zum frühmittelalterlichen Arzneibuch Bald's Leechbook, in welchem der Terminus evil ('Übel') besonders auf Leiden mit unsichtbarer, auf heidnisch-germanische beziehungsweise christliche Unholde zurückführbarer Ursache angewandt werde. Die Nähe von körperlicher und seelisch-geistiger Gesundheit und Reinigung wird an verschiedenen Textsorten diskutiert: James L. Smith spürt der Allegorie spiritueller Hygiene beziehungsweise Reinigung in unterschiedlichen aus dem monastischen Kontext stammenden Textsorten des 12. Jahrhunderts nach.
Cynthia White widmet sich am Beispiel des Northumberland Bestiary unter anderem der Frage, inwiefern die in diesem Bestiarium vorgestellten Tiere zu Gleichnissen des spirituellen Heilens werden. Hierzu finden sich gewisse Parallelen in Beiträgen zur fiktionalen Literatur: So untersucht Christopher R. Clason das Motiv giftiger und heilender Flüssigkeiten in Gottfrieds von Straßburg Tristan und Isolde und arbeitet die Untrennbarkeit der beiden Wirkungsweisen heraus; diese Ambiguität werde zum Mittel einer vielschichtigen Bedeutungsgenerierung im Rezeptionsakt. Zu einer teils ähnlichen Einschätzung gelangt Jean E. Jost in seiner Untersuchung zum Motivkomplex Wasser und Öl in mittelenglischen Romances, wenn er eine zum Teil gegensätzliche Funktionalisierung des Wassers beobachtet: einerseits physisch und spirituell heilend, anderseits zerstörerisch wirkend.
Doch was galt in Mittelalter und Früher Neuzeit überhaupt als krankhafter und somit behandlungsbedürftiger Zustand? Auch hierzu liefert der Band Antworten: Wie Daniel F. Pigg (erneut anhand von Bald's Leechbook) und Chiara Benati (anhand von Hans von Gersdorffs Feldtbuch der Wundarzney von 1517) zeigen, standen neben inneren und äußeren Krankheiten sowie körperlichen Verletzungen auch gesundheitlich unbedenkliche, aber lästige vegetative Leiden wie Mund- und Fußgeruch oder kosmetische Probleme wie Haarausfall im Fokus der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Medizin und Diätetik.
Rezepte aus den beiden Werken geben interessante Einblicke in die therapeutischen Möglichkeiten der damaligen Medizin. Sarah Gordons anhand von medizinischen Handbüchern des 15. Jahrhunderts erarbeiteter Beitrag rückt speziell den balneo- und hydrotherapeutischen Gebrauch von mit Kräutern und anderen organischen Substanzen versetztem Wasser in den Fokus und stellt ausgewählte Rezepte gegen unterschiedliche Krankheiten und Gebrechen vor.
Dass Hygiene und körperliche Gesunderhaltung nicht nur von Körperpflege, Heilmitteln und Therapieverfahren abhingen, sondern auch von sanitären Einrichtungen, einer erst im Entstehen begriffenen städtischen Infrastruktur zur Abwasserentsorgung sowie von entsprechenden rechtlichen Rahmenbedingungen wird in zwei weiteren Beiträgen deutlich: Belle S. Tutens untersucht den Umgang mit 'natürlichen Bedürfnissen' in karolingischen Männerklöstern und Scott L. Taylors erläutert die Handhabung von Hygieneproblemen als öffentlichem Ärgernis im englischen Gewohnheitsrecht.
Der städtische Raum erweist sich bezüglich der Durchsetzung von Hygienevorschriften als schwerer zu regelndes System als das engmaschig regulierte Kloster, in dem alle Aspekte des Körperlichen streng kontrolliert, überwacht und körperlich-geistige Techniken der Selbstdisziplinierung eingeübt werden. In diesem Zusammenhang ist auch der von Rosa A. Perez vorgenommene Vergleich zwischen Maries de France Lai Equitan und der Romance Flamenca bemerkenswert. Beide Erzählungen verlegen eine Ehebruchhandlung in ein Bad (privates Bad in Equitan beziehungsweise Thermalquelle in Flamenca). Dass das Bad Raum für erotisch-sexuelle Eskapaden bietet, gehört zur literarischen Topik; neben einer narratologischen Analyse schlägt Perez aber auch eine Brücke zu kulturgeschichtlichen Fragen des Badens.
Als weiterer Schwerpunkt des Buches kann das Themenfeld Wissen und Wissenschaft herauskristallisiert werden. So widmen sich Debra L. Stoudt, Thomas G. Benedek und Thomas Willard in ihren Beiträgen der Geschichte der Wasser(heil)kunde, Balneologie und Wasseranalyse. Stoudt kontrastiert mit der Gegenüberstellung von Hildegards von Bingen (12. Jahrhundert) kosmologisch und theologisch geprägtem und Georg Agricolas (16. Jahrhundert) beschreibendem und klassifizierendem Ansatz zwei in ihrer Zeit jeweils innovative Weiterentwicklungen der in der Antike begründeten Erforschung des Wassers. Dass speziell im 16. und 17. Jahrhundert zentrale Grundlagen für ein modernes Wissenschaftsverständnis gelegt wurden, zeigen die Überblicksdarstellungen von Benedek zur Balneologie des 16. Jahrhunderts als Wissenschaft im Wandel und diejenige von Willard zur Geschichte der Wasseranalyse.
Der thematisch breit gefächerte Band zeichnet ein differenziertes Bild vormoderner Vorstellungen und Praktiken der Hygiene, Körperkultur und Heilkunst und den unterschiedlichen Rollen, die Wasser, andere Flüssigkeiten und Schmutz dabei spielen. Wie der Ausdruck "Bodily and Spiritual Hygiene" im Titel des Bandes bereits andeutet, handelt es sich in der vormodernen Zeit um ein ganzheitliches Verständnis von Hygiene, das durch den interdisziplinären Zugang in angemessener Weise erschlossen wird.
Simone Loleit