Kristina Deutsch: Baderäume, Hygienepraxis und Körperkultur in der Frühen Neuzeit. Einführung, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 1 [15.01.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
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Von Kristina Deutsch
Die Bedeutung dessen, was wir gemeinhin Privatsphäre nennen, ist für die Frühe Neuzeit nur schwer greifbar. Laut Jürgen Habermas entwickelte sie sich erst in der bürgerlichen Sphäre des 18. Jahrhunderts: "Verspielte Intimität", wie sie in Adelskreisen zuweilen aufkam, "unterscheidet sich von der dauerhaften Intimität des neuen [bürgerlichen] Familienlebens". [1]
Allerdings verweisen spätestens seit der Renaissance zahlreiche adelige und höfische Zeugnisse zumindest auf eine ausgeprägte Inszenierung von Privatsphäre. [2] Neben studioli, Eremitagen und Boudoirs [3] sind dies vor allem Räume und Objekte aus dem Kontext der Hygiene- und Körperkultur: Bäder und deren Ausstattung, später auch der sogenannte lieu à l'anglaise (das WC). Beispielhaft seien außerdem neben Porträts von Personen im Hausmantel solche von Männern und Frauen im Bade genannt.
Von der historischen Existenz eines tatsächlichen Bedürfnisses nach Intimität, Rückzug und Muße ist auszugehen. [4] Selbst den öffentlichsten aller frühneuzeitlichen Monarchen, Ludwig XIV. von Frankreich, veranlasste nach Aussage des Herzogs von Saint-Simon die Suche nach "du petit et de la solitude" zum Bau von Schloss Marly. [5] Mit der Engführung auf "Baderäume, Hygienepraxis und Körperkultur in der Frühen Neuzeit" legt unser Themenforum den Schwerpunkt auf Bereiche, in denen die Bedeutung von Intimität besonders augenfällig wird.
Das Badezimmer ist für uns heute der Inbegriff von Privatsphäre. Doch veranschaulichen das Buch von Vera Herzog zum Fürstlichen Badepavillon (Berlin / München: Deutscher Kunstverlag 2016) und der Tagungsband des Münsteraner Instituts für Kunstgeschichte zu Höfischen Bädern (Berlin / Boston: de Gruyter 2017), dass Bäder vom 16. bis zum 18. Jahrhundert eine herrschaftsrepräsentative Funktion hatten.
Auch das "Stille Örtchen" ist seit 2011 Thema musealer Manifestationen. [6] Nun wird zudem das Gebiet jenseits der fürstlichen Leibstühle untersucht: Jan Carstensen und Heinrich Stiewe widmen sich der Geschichte von Abort und Wasserklosett (Petersberg: Peter Imhof 2016). Der Blick auf die frühneuzeitliche Badekultur bliebe unvollständig ohne die Berücksichtigung des öffentlichen Badewesens, wie es der Historiker Robert Büchner Im städtischen Bad vor 500 Jahren in Tirol rekonstruiert (Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2014).
Die literaturwissenschaftliche 'Bäderforschung' erweitert ein von Albrecht Classen herausgegebener Band zu Bodily and Spiritual Hygiene in Medieval and Early Modern Literature (Berlin / Boston: de Gruyter 2017). Nahema Hanafis Buch Le frisson et le baume. Expériences féminines du corps au Siècle des lumières (Presses universitaires de Rennes 2017) schließt den Kreis zu Aspekten der - in dem Fall weiblichen - Körperwahrnehmung.
Die bekannte Kontroverse zwischen Norbert Elias und Hans Peter Duerr über die Frage der Schamhaftigkeit (Badender) und den daraus abzuleitenden Zivilisationsgrad einer Epoche ist für die aktuellen Ansätze vor allem von wissenschaftsgeschichtlicher Relevanz. [7] Dasselbe gilt für die kritisch zu hinterfragende Annahme eines gepuderten und parfümierten, aber unsauberen Barockzeitalters. So wären die Worte Liselottes von der Pfalz, mit denen sie die Schilderung ihrer morgendlichen Hygiene 1721 beginnt, durchaus einmal ernst zu nehmen: "Ich schreibe bis halb elf, dann laß ich mein Honigwasser bringen, wasche mich so sauber ich kann [ ]". [8] Wir werden allerdings niemals wissen, was dies genau bedeutete. Stattdessen bietet das Thema die Möglichkeit einer Annäherung an das, was den Menschen nicht zu geringem Maße ausmacht: "Le sentiment de soi". [9]
Anmerkungen:
[1] Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, 14. Aufl. Frankfurt/M. 2015 [1962], S. 108.
[2] Für das 18. Jahrhundert vgl. zur "mise en place d'un véritable système décoratif qui semble mettre en scène l'intimité bien plus qu'en être le reflet » Bérangère Poulain: "La nature dans le boudoir", in: Anne Perrin Khelissa (éd.): Corrélations : Les objets du décor au siècle des Lumières (Études sur le 18e siècle), Brüssel 2015, S. 235-249, Zitat auf S. 249 ; vgl. die Rezension des Bandes in sehepunkte 17 (2017), Nr. 11.
[3] Vgl. zuletzt etwa Christina Göttler: "The Art of Solitude: Environments of Prayer at the Bavarian Court of Wilhelm V", in: Art History 2 (2017), S. 404-429; Ewa Lajer-Burchharth / Beate Söntgen (eds.): Interiors and Interiority, Berlin / Boston 2016 ; Alexia Lebeurre: "Le succès du boudoir au XVIIIe siècle ou les prestiges de l'intime", in: Khelissa 2015 (wie Anm. 2), S. 221-234.
[4] Siehe diesbezüglich die Forschungen des SFB 1015 "Muße. Grenzen, Raumzeitlichkeit, Praktiken" der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. 2018 erscheinen die Beiträge des Workshops "Das Bad als Mußeraum" (2015).
[5] Zitiert nach Louis de Rouvroy de Saint-Simon: Mémoires complets et authentiques du Duc de Saint-Simon sur le siècle de Louis XIV et la Régence, hrsg. v. Adolphe Chéruel, Bd. 23, Paris, 1840, S. 152.
[6] Das Stille Örtchen. Tabu und Reinlichkeit bey Hofe, Ausst.-Kat. (Staatliche Schlösser und Gärten Baden-Württemberg), hrsg. v. Wolfgang Wiese / Wolfgang Schröck-Schmidt, Berlin / München 2011; vgl. auch Intime Zeugen. Vom Waschtisch zum Badezuber, Ausst.-Kat., hrsg. v. Eva B. Ottilinger, Wien 2011.
[7] Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation, Basel 1939; Hans Peter Duerr: Der Mythos vom Zivilisationsprozeß, Bd. 1, Nacktheit und Scham, Frankfurt/M. 1988.
[8] Zitiert nach Eva B. Ottilinger: "Vom Waschtisch zum Badezimmer. Zur Geschichte der Körperhygiene und des privaten Bades in Europa", in: Ausst.-Kat. Wien 2011 (wie Anm. 6), S. 11-63, Zitat auf S. 28.
[9] Georges Vigarello: Le sentiment de soi. Histoire de la perception du corps. XVIe-XXe siècle. Suivi de La Sensibilité contemporaine, Paris 2016.