Rezension über:

Bogdan Musial: "Lagermedizin" in Auschwitz. Funktion und Dilemmata der Häftlingsärzte 1940-1945, Hamburg: Hamburger Edition 2024, 653 S., 32 s/w-Abb., ISBN 978-3-86854-394-0, EUR 45,00
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Rezension von:
Ralf Forsbach
Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Ralf Forsbach: Rezension von: Bogdan Musial: "Lagermedizin" in Auschwitz. Funktion und Dilemmata der Häftlingsärzte 1940-1945, Hamburg: Hamburger Edition 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 3 [15.03.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/03/39296.html


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Bogdan Musial: "Lagermedizin" in Auschwitz

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Wie Medizin im Konzentrationslager Auschwitz angewandt wurde, ist wiederholt Gegenstand von geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen gewesen. Häufig stand dabei das Wirken von Alfred Mengele im Vordergrund. Wurde er zunächst als singulärer diabolischer Arzt gezeichnet, wusste man später um die Einbindung auch seiner verbrecherischen Taten in das Wissenschaftsnetz der NS-Zeit. Ein Desiderat aber war bislang eine Gesamtdarstellung der "'Lagermedizin' in Auschwitz", wie sie Bogdan Musial nun vorgelegt hat. Dabei bietet sein Buch weit mehr als eine Beschreibung von "Funktion und Dilemmata der Häftlingsärzte 1940-1945", wie der Untertitel lautet.

Konzise wird das Konzentrationslager in "Intentionen, Aufbau und Funktionsweise" dargestellt, insbesondere der Häftlingskrankenbau. Dies gelingt bedrückend anschaulich durch die Einbeziehung der Akteure. Man lernt Patienten, Häftlingsärzte, Lagerärzte und SS-Männer als geschundene und schindende Menschen kennen. Die vielen einzelnen oft aus niedergeschriebenen Erinnerungen gehobenen Geschichten, die man nicht als Anekdoten bezeichnen mag, ergeben ein atmosphärisch dichtes Bild des Grauens. Gelegentlich rückt oppositionelles Verhalten zum Wohle der Kranken in den Vordergrund. So sabotierten Häftlingsärzte Anweisungen der Lagerärzte etwa dadurch, dass sie experimentelle Arzneimittel nicht verabreichten. Dies rettete Leben, führte aber auch zu verzerrten Forschungsergebnissen bezüglich nun fälschlich als hilfreich angesehener Medikamente (123).

Musial verortet die Häftlingsärzte in "der sogenannten Lagerprominenz", die von "Hunger und Entkräftung [...] faktisch verschont" geblieben sei (9). Sie hatten mit den ihnen vorgesetzten Lagerärzten, in der Regel SS-Ärzten, zu kooperieren und waren so an Selektionen und Humanexperimenten beteiligt. Zudem oblag ihnen mit primitivsten Mitteln die Behandlung von kranken oder nach Misshandlung verletzten Häftlingen. Musial zitiert Zeitzeugenberichte zu den erbärmlichen Umständen: Ein den ganzen Tag operierender Arzt verfügte über ein Skalpell und zwei Pinzetten ohne jede Möglichkeit zur Sterilisierung.

Die Häftlingsärzte ordnet Musial zwei Hauptgruppen zu, der jüdischen und der nichtjüdischen polnischen. Er betrachtet deren Schicksal auch über das Ende des NS-Regimes hinaus, um vor allem auf das Leid der jüdischen Häftlingsärzte aus Ost- und Südosteuropa hinzuweisen. Sie gelangten in den sowjetischen Herrschaftsbereich und sahen sich vielfach zur Emigration gezwungen.

Nicht nur in dem entsprechend überschriebenen Kapitel vermittelt Musial einen Eindruck vom "Häftlingskosmos", aus dem er Einzelne herausgreift. Zu diesen gehört Hans Bock, der bis 1943 als Funktionshäftling (Kapo) großen Einfluss im Häftlingskrankenbau hatte und sich inner- wie außerhalb des Sanitätsdienstes um Menschlichkeit bemühte, auch gegenüber Juden und Polen. Ihm gegenüber stellt Musial Leo Witschorek, einen "der brutalsten Kapos in Auschwitz" (127), der nach deren Vergewaltigung wiederholt minderjährige Männer erhängte. Falsche Simplifizierungen aber vermeidet der Autor. So installierte Hans Bock, der zur Tötung von Häftlingen (unter anderem Maximilian Kolbe) durch Phenolspritzen gezwungen wurde, ein Bewachungssystem junger skrupelloser Funktionshäftlinge, die ihrerseits für Häftlingsärzte und -pfleger eine Bedrohung darstellten.

Die menschlichen Abgründe unter den Häftlingen wurden von der Lagerleitung durch die unzureichende Versorgung mit Nahrung, Medikamenten und anderem medizinischen Material noch gesteigert. Es entstand ein korruptes System, in dem häufig nur durch Bestechung Privilegierte Medizin erhielten oder im Behandlungsfall auf andere Weise bevorzugt wurden. Das Ziel zu helfen ging trotz der allgemeinen Verrohung jedoch nicht völlig verloren. So wurde nach Wegen gesucht, den Medikamentenmangel zumindest teilweise zu kompensieren. Den Essensrationen entnahm man Knoblauch und Zwiebeln zur Wundbehandlung. Außenkommandos erhielten den Auftrag, nach Kräutern zu suchen und diese ins Lager zu schmuggeln.

Musials Buch widmet sich eingehend auch den NS-Medizinverbrechen jenseits der Unterversorgung der Häftlinge. In bisher nicht gekannter Präzision werden die Versuche zur Sterilisation von Menschen durch Röntgenstrahlung beschrieben. Musial legt die damit verbundenen Absichten offen, schildert das Humanexperiment und stellt den "eigentlichen Täter", den Lagerarzt Horst Schumann, biographisch vor (501). Auch die als "Euthanasie"-Aktion 14f13 bekannt gewordenen Tötungen von kranken KZ-Insassen beschreibt Musial als "Erprobung von Mordmethoden im Krankenbau" detailliert (177). Zunächst wurden die als arbeitsunfähig geltenden Menschen selektiert und in "Euthanasie"-Anstalten ermordet, später vor Ort in den Konzentrationslagern. Im KZ Auschwitz war die Tötung durch Phenolspritzen anderthalb Jahre lang gängige Praxis.

Dass eine umfassende Studie wie die vorliegende erst acht Jahrzehnte nach der NS-Zeit erschienen ist, liegt gewiss auch an der schwierigen Quellenlage. Einerseits erlauben die Quellen keine präzisen Angaben etwa über die Zahl der Häftlingsärzte und -ärztinnen. Musial spricht von Hunderten bei hoher "Fluktuation" und höchst unterschiedlichen Schicksalen, die von Tod durch Erschießen oder Fleckfieber über Verlegung in andere Konzentrationslager bis zur Freilassung einiger weniger polnischer Häftlingsärzte reicht (9). Andererseits sind die Quellen in ihrer auch sprachlichen Vielfalt anspruchsvoll. Musial hat eine Reihe vor allem polnischer Quellen, vielfach Berichte und Erinnerungen, erstmals wissenschaftlich ausgewertet.

Diskutieren kann man über Musials Praxis, distanzierende Anführungsstriche zu setzen. Wenn er von "'medizinischen' Experimenten der SS-Ärzte" spricht, so kann man dies wie "pseudomedizinisch" lesen. Tatsächlich aber waren die verbrecherischen Humanexperimente inhärenter Bestandteil der wissenschaftlichen Medizin, deren Ergebnisse in den gängigen Fachzeitschriften publiziert wurden; Präparate gelangten an Universitäten und Forschungsinstitute. Doch eine einst grundlegende Studie wie Hans Hesses "Augen aus Auschwitz" (2001) taucht ebenso wenig im Literaturverzeichnis auf wie eine Reihe von Büchern zu Josef Mengele, zum Beispiel das von Sven Keller (2003). Das vergleichsweise schmale Literaturverzeichnis steht im Kontrast zu der großen Zahl ausgewerteter, teilweise bislang unbekannter Quellen.

Ganz grundsätzlich ließe sich auch über Musials Verwendung des Dilemma-Begriffs diskutieren, der eine gewisse Entscheidungsfreiheit suggeriert, die der Häftlingsarzt oft nicht hatte.

Angesichts der hohen Bedeutung des Buchs ist es unverständlich, wieso es derart schlecht erschlossen ist. Das Inhaltsverzeichnis ist grob: Das Kapitel "Medizinische 'Experimente' und 'Versuchsreihen'" erscheint ohne jede Untergliederung, obwohl es fast hundert Seiten zählt. Zwischenüberschriften findet man nur im Text. Noch stärker wird der wissenschaftliche Gebrauch des Werks durch das Fehlen eines Namensregisters erschwert; auch ein Ortsregister wäre hilfreich gewesen. Diese Unzulänglichkeiten sind umso erstaunlicher, als die Ausstattung des Buchs mit zwei Lagerkarten, ausgewählten Fotos und Lesebändchen durchaus als überdurchschnittlich bezeichnet werden kann.

Ralf Forsbach