Martin Stief / Mark Schiefer (Bearb.): Die DDR im Blick der Stasi 1982. Die geheimen Berichte an die SED-Führung (= Die DDR im Blick der Stasi. Die geheimen Berichte an die SED-Führung), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2024, 320 S., 9 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-30234-7, EUR 30,00
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Von den 1950er Jahren bis zum Ende der DDR übermittelte das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) geheime Berichte an die SED-Führung, die vom Stasiunterlagenarchiv nach Kalenderjahren veröffentlicht werden. Nun liegt der Band für das Jahr 1982 vor: Online stehen 202 mit einer Volltextrecherche erschlossene Dokumente zur Verfügung. Die Druckausgabe bietet eine Auswahl der Berichte der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) des MfS.
Mit einer lesenswerten Einführung ordnet der Bearbeiter die Dokumente in den zeithistorischen Kontext ein. Martin Stief beschreibt, welcher Vielzahl von Krisen sich die SED 1982 gegenübersah: Aus außenpolitischer Sicht nennt er die sich verschärfende Konfrontation der beiden Blöcke, die die SED vor allem in der NATO-Nachrüstung, aber auch in "dem faschistischen Terror Israels gegen das libanesische und palästinensische Volk" (230) festmachte, wie sie es nannte. Hinzu kamen wirtschaftliche Schwierigkeiten und die rasante Zunahme der Staatsverschuldung der DDR bei westlichen Kreditgebern, die den sozialpolitischen Spielraum der SED schmerzlich beschnitt. Das Jahr 1982 markiert auch eine neue Schwerpunktsetzung in der Berichterstattung der ZAIG. Etwa die Hälfte der Meldungen widmete sich den als Gegnern wahrgenommenen Friedensgruppen und den christlichen Kirchen, insbesondere der evangelischen. Und: Erich Honecker erhielt in den 1980er Jahren deutlich mehr Berichte der ZAIG als im vorangegangenen Jahrzehnt.
Die Friedensbewegung agierte in der DDR unter dem Dach der evangelischen Kirche und stand damit unter einem gewissen Schutz. Das musste die SED bei der Formulierung und Umsetzung ihrer Kirchenpolitik berücksichtigen. Dabei war, wie Stief herausarbeitet, der Staatssicherheitsdienst sicherlich ein wichtiger, aber eben nur einer von mehreren Playern. Zu den entscheidenden Schaltstellen gehörten neben der kirchenpolitischen Abteilung der MfS-Hauptabteilung XX die Arbeitsgruppe Kirchenfragen des ZK der SED und das Staatssekretariat für Kirchenfragen, in denen allerdings zahlreiche Offiziere im besonderen Einsatz und Inoffizielle Mitarbeiter des MfS tätig waren. Die SED-Führung verfügte also über mehrere Informationskanäle. Deshalb zeichnen die Dokumente, die die ZAIG an ausgewählte Spitzenfunktionäre übermittelte, nur ein unvollständiges Bild der innerkirchlichen Entscheidungsprozesse.
Das MfS agierte zweigleisig: In der DDR ging die Geheimpolizei gegen Menschen, die Aufnäher mit dem wirkmächtigen Slogan "Schwerter zu Pflugscharen" trugen, mit aller Härte vor. Zudem meldete das MfS, dass bei manchen "Trägern pazifistischer Symbole nicht Friedenswillen, sondern Opposition und Hass gegen den sozialistischen Staat Motiv ihres Handelns sind". (145) Dagegen unterstützte die Stasi in der Bundesrepublik Deutschland die Friedensbewegung, die das gleiche Bibelzitat nutzte.
Folgt man den ZAIG-Berichten, dann entsteht der - wie auch Stief hervorhebt - unzutreffende Eindruck, von den Friedensgruppen sei eine größere Gefahr für die Stabilität der SED-Herrschaft ausgegangen als von der stagnierenden Wirtschaft. Auffällig ist, dass sich die ZAIG mit Meldungen über ökonomische Probleme und die Versorgungskrise zurückhielt - ganz im Gegensatz zum Berichtswesen Anfang der 1970er Jahre, als es darum ging, Honecker über wirtschaftliche Schwierigkeiten zu informieren und ihn damit bei seinem Kurs gegen Walter Ulbricht zu unterstützen. 1982, als die Machtverhältnisse an der SED-Spitze nicht mehr in Frage standen, übermittelte die ZAIG nur noch wenige Berichte zur Wirtschaftspolitik.
Das MfS registrierte, dass die Unzufriedenheit über die schlechte Versorgung von den Bezirken auf Ost-Berlin übergriff. Detailliert listete die ZAIG zahlreiche Veränderungen im Kaufverhalten der Bevölkerung auf, die sich immer stärker mit knappen Lebensmitteln bevorratete. Frauen erledigten während der Arbeitszeit ihre Einkäufe, um aufgrund des unzureichenden Warenangebots in den Geschäften überhaupt etwas erwerben zu können. Dieser Entwicklung standen SED-Mitglieder meist hilflos gegenüber, wie das MfS zwar wusste, aber nicht an die SED weitergab. Die Funktionäre befanden sich "infolge fehlender Argumente in der Defensive" (231) und wichen vor dem Unmut zurück. Für den internen Gebrauch listete das MfS mehrere Vorhaben auf, mit denen sich trotz der offensichtlichen Versorgungsengpässe die Ansicht Honeckers, "dass unsere Partei mit gutem Gewissen einschätzen kann, dass wir auch im internationalen Vergleich ein hohes quantitatives und qualitatives Niveau in der Ernährung erreicht haben" (235), doch noch bewahrheiten könnte. Dazu sollten der Fett- und Zuckerverbrauch reduziert, nach Ersatzstoffen gesucht und "bedarfsgerechte Abpackgrößen" (237) verwendet werden.
Neben Berichten zur Friedensbewegung und der wirtschaftlichen Lage der DDR übermittelte die ZAIG auch Informationen zur Situation Jugendlicher und der Fluchtbewegung.
Es waren nicht zuletzt uneingelöste Versprechen der SED etwa einer offeneren Jugendpolitik, die zu Rissen im ideologischen Fundament der SED-Diktatur führten. So erfuhr die DDR-Volksbildungsministerin Margot Honecker in einer für sie persönlich bestimmten Ausarbeitung, dass die Einflüsse der Friedensbewegung, aber auch rechtsextremistische Erscheinungen vor den Schulen keineswegs Halt machten. Betroffen waren vielfach Kinder aus regimetreuen Elternhäusern. Diese "Erscheinungen" (204) führte die Geheimpolizei in erster Linie auf den Konsum westlicher Massenmedien sowie auf die "gegnerische Kontaktpolitik/Kontakttätigkeit" (207) zurück und nicht auf Unzufriedenheit mit der innenpolitischen Lage in der DDR.
Zu den regelmäßig aufgenommenen Themen der ZAIG gehörte die Flucht von Menschen aus der DDR. 1982 betraf das beispielsweise einen Vorfall im Vogtland. Dort gelang es vier Meliorationsarbeitern, die zu Landschaftsarbeiten in unmittelbarer Grenznähe eingesetzt waren, die Sperranlagen zu überwinden. Diese geglückte Flucht legte zahlreiche Mängel des Grenzregimes offen, auf die das MfS detailliert einging. Die Arbeiter kehrten kurz darauf straffrei in die DDR zurück, während zwei Grenzsoldaten wegen Verstößen gegen Dienstvorschriften Haftstrafen von über zwei Jahren erhielten. Besonders aufmerksam registrierte das MfS Fluchtabsichten des medizinischen Personals, weil sich dieses nur schwer ersetzen ließ. Die Stasi unterstellte den Fluchtwilligen, sie würden das Niveau der Gesundheitsversorgung im Westen "meist in Unkenntnis der konkreten Sachlage" überbewerten (270). Dennoch plädierte das MfS dafür, der Kritik an der mangelhaften Ausstattung der DDR-Krankenhäuser "stärkere Beachtung" zu schenken. (274)
Honecker selbst wies in seiner Neujahrsansprache auf die Bedeutung jedes einzelnen Jahres im Fünfjahrplan von 1981 bis 1985 hin. Gleichzeitig machte er deutlich, wenn "eines im besonderen Maße über den Erfolg des Ganzen entscheidet, dann 1982". (17) Es ist Stiefs Verdienst, dass aus der Dokumentenauswahl die zahlreichen Herausforderungen, denen sich die SED 1982 gegenübersah, deutlich hervorgehen. Die Forschung wird ihm diese Mühe danken.
Stefan Donth