Mark Schiefer: Profiteur der Krise. Staatssicherheit und Planwirtschaft im Chemierevier der DDR 1971-1989 (= Analysen und Dokumente; Bd. 52), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018, 483 S., 8 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-31061-8, EUR 27,99
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Mark Schiefer wendet sich in seiner Dissertation einem bisher nur in Ansätzen erforschten Thema zu und leistet mit seiner gründlich recherchierten und gut geschriebenen Studie Pionierarbeit. Er untersucht die Überwachung der DDR-Chemieindustrie durch die Objektdienststellen (OD) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in den Kombinaten Leuna, Buna und Bitterfeld von 1971 bis 1989.
Nachdem er die Historie der drei genannten Chemiekombinate anhand der einschlägigen Literatur vorgestellt hat, beschreibt er im zweiten Kapitel ausführlich die Einbindung des MfS in die Planwirtschaft auf der Makroebene. Mit der Überwachung der Volkswirtschaft war die Hauptabteilung XVIII des MfS beauftragt. Sie unterhielt in allen Bezirksverwaltungen des MfS eigene Abteilungen und in allen größeren Betrieben Operativgruppen. In den sieben größten Kombinaten der DDR gab es, teilweise schon seit 1957, sogenannte Objektdienststellen. Allein drei davon waren im Chemierevier des Bezirks Halle angesiedelt, was der Autor auf die volkswirtschaftliche Bedeutung der betreffenden Kombinate zurückführt.
Strukturen, Aufgaben und Arbeitsmethoden der OD werden präzise beschrieben. Schwerpunkte bildeten die Überprüfung und Überwachung der staatlichen Leiter und die Absicherung des Außenhandels. Überzeugend arbeitet Schiefer heraus, dass das MfS in den Kombinaten nicht auf sich allein gestellt und nicht nur im Verborgenen agierte, sondern als ein für alle sichtbarer Akteur auftrat und eng mit der SED-Kreisleitung und der Kombinatsleitung kooperierte. Die Tätigkeiten der MfS-Offiziere in den Kombinaten waren dabei ausgesprochen vielfältig und reichten vom Kampf gegen "westliche Agenten", der Aufklärung von Großbränden bis zum Anfertigen von Marktstudien.
Im Hauptteil befasst sich der Autor mit der Überwachung der Chemiekombinate unter den Bedingungen der ökonomischen Öffnung der DDR (1971-1976), in der Phase der wachsenden Außenverschuldung (1977-1983) und in der Zeit der zunehmenden ökonomischen Überforderung (1984-1989). Dabei werden zunächst die ökonomischen Probleme umrissen und anschließend die Reaktionen des MfS anhand von Fallbeispielen vorgestellt. Dem Aufschwung des Westhandels stand das MfS skeptisch gegenüber. Der Autor zeigt die nahezu schrankenlose Überwachungspraxis auf, die zum Teil auf anachronistischen Feindbildern beruhte und zu böswilligen Verdächtigungen gegenüber Führungskräften führte. Andererseits blieben die Sanktionsmöglichkeiten der Objektdienststellen stark eingeschränkt. Ohne die Zustimmung der SED-Kreisleitung und des Generaldirektors konnten sie wenig durchsetzen.
Interessant wäre es gewesen, wenn der Autor die inzwischen wenigstens teilweise verfügbaren Quellen über die Erkenntnisse des Bundesnachrichtendienstes (BND) zum Zustand der DDR-Wirtschaft bis 1976 zu Rate gezogen hätte. Eine Stichprobe in der Online-Recherche des Bundearchivs zeigt, dass dem BND über die drei Chemiekombinate Leuna, Buna und Bitterfeld sowohl Informationen aus offenen als auch nachrichtendienstlichen Quellen vorlagen.
Schiefer weist auf deutliche Unterschiede in den Praktiken der Objektdienststellen hin. Während das MfS im Kombinat Leuna eher als passiver Beobachter agierte, verfügten die MfS-Offiziere im Kombinat Buna nicht nur über größere operative Spielräume, sondern erzwangen auch härtere Sanktionen gegen einzelne Führungskräfte und zerstörten so ganze Berufskarrieren. Das offensivere Agieren des MfS im Kombinat Buna erklärte der Autor mit der gegenüber Leuna deutlich schwächeren Stellung der dort in rascher Folge wechselnden Kombinatsdirektoren. Die SED-Kreisleitung war in Schkopau das eigentliche Machtzentrum, was der MfS-Objektdienststelle größeren Einfluss verlieh. In Leuna agierte hingegen eine viel stabilere Kombinatsleitung, deren Direktor Erich Müller seit 1976 Mitglied des Zentralkomitees der SED war.
Die Qualität der analytischen Arbeit der Objektdienststellen charakterisiert Schiefer als schwach. Die MfS-Offiziere trugen zwar eine Fülle von Informationen über den kritischen Zustand vieler Anlagen und die zunehmende Umweltverschmutzung zusammen, sahen sich aber zunehmend in der Rolle von ohnmächtigen Mahnern. Je mehr Hiobsbotschaften aus den Betrieben an das Politbüro herangetragen wurden, desto weniger passierte. Wie Schiefer überzeugend belegt, war das MfS kein geheimer Regulator, der zur Verbesserung der wirtschaftlichen Lage und der Anlagensicherheit beitrug. Echte Stabilisierungseffekte vor Ort wurden nur in Ausnahmefällen erreicht. Zumeist wurden Sachprobleme in Personalprobleme umgedeutet. Um dem Krisengeschehen Herr zu werden, wurden vor allem leitende Mitarbeiter der Betriebe überwacht und gegebenenfalls auch bestraft.
In der Zusammenfassung präsentiert Schiefer sieben prägnante Thesen, die lohnende Ansatzpunkte für weitere vergleichende Forschungen bieten. Er sieht das MfS in den Chemiekombinaten im Regelfall in der Rolle eines passiven Beobachters. Das steht in deutlichem Gegensatz zur Rolle des MfS in den Betrieben der Hochtechnologie, in denen der Geheimpolizei eine konstruktive, bisweilen sogar eine steuernde Rolle bei der Umsetzung von Planvorhaben zugesprochen wird. Er schätzt den Beitrag des MfS zur Lösung ökonomischer Probleme als gering ein. Mehr noch: die Objektdienststellen hätten betriebliche Funktionsprobleme eher noch verstärkt. Vor allem in Bezug auf die Außenhandelsaktivitäten der Kombinate trat das MfS als bremsender Faktor auf.
Nur die letzte These des Autors, die zugleich auch der Titelfindung des Buches diente, erscheint abwegig. Schiefer sieht in den Objektdienststellen Krisengewinnler und begründet dies mit der Ausweitung ihrer Instrumente und Tätigkeitsfelder. Doch was hat die Erweiterung der Einsatzfelder tatsächlich bewirkt? Eher wurden, wie der Autor selbst hinreichend belegt, die wirtschaftlichen Probleme durch die Tätigkeit des MfS noch verschärft und die Belegschaften unter Stress gesetzt. Ein personeller oder finanzieller Zugewinn für die Objektdienststellen lässt sich nicht nachweisen. Kurzum, ein vermeintlicher Krisengewinnler, der auf dem angeblichen Höhepunkt seiner Tätigkeit (völlig zu Recht) untergeht, ist kein Profiteur.
Zu monieren sind ansonsten nur noch Kleinigkeiten. So begann der Aufbau einer Mineralölindustrie in der DDR nicht erst mit dem Chemieprogramm von 1958. Eine Mineralölindustrie gab es schon zuvor, nur basierte diese auf der in den 1920er Jahren entwickelten Kohlehydrierung und in geringem Maße auf Erdölimporten aus der Sowjetunion und Österreich. Auch bildeten die Leuna- und Buna-Werke keine Verbundchemie. Fragwürdig ist die Einschätzung, dass Horst Wambutt, der Leiter der Abteilung Grundstoffindustrie beim ZK der SED, ein weit einflussreicherer Gesprächspartner für die Kombinatsdirektoren gewesen sein soll als der Minister für chemische Industrie, Günther Wyschofsky. Die fachliche Kompetenz bei allen großen Investitionsprojekten lag eindeutig beim Ministerium für chemische Industrie. Diese Monita ändern aber nichts daran, dass Schiefer eine sehr lesenswerte Studie über ein bisher von der Forschung wenig beachtetes Thema vorgelegt hat.
Rainer Karlsch