Felix Hinz: Historisches Lernen - interkulturell und postkolonial. Ein Handbuch, Stuttgart: UTB 2025, 423 S., 27 s/w-Abb., ISBN 978-3-8252-6446-8, EUR 35,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Roland Bernhard / Susanne Grindel / Felix Hinz u.a. (Hgg.): Mythen in deutschsprachigen Geschichtsschulbüchern. Von Marathon bis zum Élysée-Vertrag, Göttingen: V&R unipress 2017
Felix Hinz (Hg.): Kreuzzüge des Mittelalters und der Neuzeit. Realhistorie - Geschichtskultur - Didaktik, Hildesheim: Olms 2015
Felix Hinz: Historische Mythen im Geschichtsunterricht. Theorie und Zugriffe für die Praxis, Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2023
Die Aufarbeitung der (deutschen) Kolonialgeschichte in Öffentlichkeit und Wissenschaft hat seit den 2000er Jahren zu zahlreichen Debatten und Kontroversen geführt. Fragen zu Wiedergutmachung und Restitution, aber auch zur Tradierung kolonialrassistischer Topoi wurden von verschiedenen Akteur:innen gestellt und entweder teilweise oder wenigstens vorläufig beantwortet. Eine Einbettung postkolonialer Theorien in den Geschichtsunterricht steht allerdings trotz dieses unmittelbaren Gegenwartsbezugs noch aus. Der vorliegende Band setzt hier an.
Die 2025 erschienene Monografie enthält auf 422 Seiten 16 Kapitel, die sich in drei Gruppen unterteilen lassen. Im ersten Teil (Kapitel 1 bis 4) werden postkoloniale Theorien und interkulturelles Lernen theoretisch fundiert. Dies umfasst auch einen Aufriss der wichtigsten Konzepte und Diskurse zum Kolonialismus und eine Einordnung in die gesellschaftlichen Hintergründe postkolonialer Theorien. Im zweiten Teil (Kapitel 5 bis 7) skizziert Felix Hinz geschichtsdidaktische Zugriffe. Diese gehen vom interkulturellen Lernen aus und führen über einen Blick auf Klassiker in Lehrplänen über die Analyse von Schulbüchern zu Materialvorschlägen. Im dritten Teil (Kapitel 10 bis 13) werden ausgewählte Quellen, Darstellungen und außerschulische Lernorte zusammengestellt.
Die Argumentation des Bandes ist in sich konsistent und plausibel, aufgrund des ausgesprochen großen Umfangs berücksichtigter Diskurse aber voraussetzungsreich. Felix Hinz nimmt dabei einen wohlwollenden, aber distanzierten Standpunkt zu postkolonialen Theorien ein. In Anerkennung, dass es bei postkolonialen Theorien auch um ein Politikum geht (13) [1], löst er seinen Zugang von der aktivistischen Perspektive postkolonialer Theorien, um einen wissenschaftlichen Zugang (16) zu sichern. [2] Diese Reflexion des eigenen Standpunkts prägt den Band stets mit. Wiederholt nimmt Felix Hinz blinde Flecken und argumentative Fallstricke in den Blick, ohne einer überzogenen Fundamentalkritik zu verfallen (234, 247). Die Chancen und Problemfelder werden differenziert abgebildet. Lösungsansätze werden gegeneinander abgewogen.
Der erste Teil des Buches diskutiert ausgehend von einer Beschreibung aktueller Debatten wichtige Begriffe wie Kultur (87) und Kolonialismus (137), um die Wissensbasis für eine Abbildung postkolonialer Theorien und interkulturellen Lernens zu schaffen. Allerdings wird kein Bezug zu den unterschiedlichen Paradigmen der Globalgeschichte hergestellt, obwohl deren Bedeutung hervorgehoben wird (137). [3] Das Konzept der Verflechtungsgeschichte wird beispielsweise später angewendet, aber nicht erläutert (280). Dabei bemüht sich der Band ansonsten darum, grundlegende Konzepte zu erläutern - beispielsweise bei Formen und Entwicklungen von Kolonien (143-144, 150-151).
Der zweite Teil geht vom interkulturellen Lernen aus, um eine Dekonstruktion bisheriger Narrationen im Unterricht anzulegen (277). Grundbegriffe der Geschichtsdidaktik werden hier vorausgesetzt (17). Für den roten Faden des Buchs ist diese Entscheidung sehr sinnvoll, macht das Kapitel aber noch voraussetzungsreicher. Aus dieser Fokussierung folgt auch, dass die für historisches Lernen in globalen Kontexten relevanten Dimensionen von Raum und Zeit nicht weiter diskutiert werden. [4] Hier wäre eine Anbindung an das Narrativitätsparadigma für die Synthese sinnvoll gewesen. So würden Perspektiven der Kolonialgeschichte als Umschreibung bestehender Erzählungen bei der Berücksichtigung von Subalternen mit eigener Agency klarer. [5]
Die Kriterien für Schulbuchmaterialien (279/280) sind eine kompakte Grundlage, mit der Materialien beurteilt und auch neu konzipiert werden können. Die einzelnen Kriterien finden sich zwar in verschiedenen Beiträgen verstreut ebenfalls wieder, sind hier aber kompakt und eindeutig zusammengestellt. Die Themenvorschläge enthalten neben einer Einordnung auch Quellenbeispiele und Aufgabenstellungen, ohne als fertige Unterrichtsmaterialien gelten zu können. Die Perspektiven für den Unterricht werden aber klar verdeutlicht. Didaktiker:innen und Lehrer:innen dürften über die Wahl der Operatoren in den Aufgaben länger streiten.
Im Anschluss an Abbildungs- und Literaturverzeichnis werden im dritten Teil unterschiedliche Quellen- und Darstellungsbestände aufgelistet. Während die Materialliste (399-412) für Lehrer:innen einen guten Überblick über verfügbare Unterrichtsmaterialien enthält, ist die Auswahl über geschichtskulturelle Darstellungen in Kapitel 10 sehr knapp geraten. Klassiker (Gandhi, Tiger von Eschnapur, Die Harfe von Burma) oder modernere Beiträge (Der bunte Schleier, Railway Man) werden nicht genannt. Dies gilt auch für die anderen Genres (Roman, Comic), in denen subalterne Gruppen mit Agency zu Wort kommen. Besonders auffällig ist, dass digitale Spiele nicht berücksichtigt werden, obwohl Geschichtsbilder vom Kolonialismus im schülernahen Medium diskutiert werden. [6]
Insgesamt bietet der Band einen vielschichtigen und differenzierten Zugang. Die Verbindung postkolonialer Theorien und interkulturellen Lernens ist eine elegante Wahl. Die fachdidaktische Wendung fachwissenschaftlicher Diskurse wird so anschlussfähig. Gerade die präzise Darstellung der Probleme postkolonialer Theorien wird sich als wichtiger Beitrag zu ihrer Weiterentwicklung erweisen. Die Verbindung mit interkulturellem Lernen ist eine Perspektive zur didaktisch begründeten Fortentwicklung des Geschichtsunterrichts - auch zur inhaltlichen Novellierung.
Für (eingelesene) Kolleg:innen der Geschichtswissenschaft und ihrer Didaktik ist Felix Hinz´ Band hervorragend geeignet, sich einen Überblick zu verschaffen. Für Lehrer:innen sind der fachdidaktische Legitimationszusammenhang und die Umsetzungsvorschläge mehr als eine Überlegung wert. Der Band bietet über Gegenwartsbezug und Fachlichkeit die Legitimation zur Aufnahme der Kolonialgeschichte in den Unterricht. Zugleich werden Ansätze für die inhaltliche Innovation von Unterricht angeboten. Student:innen werden angesichts des voraussetzungsreichen Gegenstands und der vielen unterschiedlichen Diskurse, Konzepte und Begriffe mit dem Text ringen. Der Aufwand dürfte sich aufgrund der vielen anschlussfähigen Querverweise und der zusammengestellten Grundlagen aber für alle Zielgruppen lohnen.
Anmerkungen:
[1] Sebastian Conrad: What is global history? Princeton 2016, 205-236.
[2] María do Mar Castro, Nikita Dhawan: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 2020, 25.
[3] Sebastian Conrad: What is global history? Princeton 2016, 37-61.
[4] Andrea Komlosy: Globalgeschichte. Methoden und Theorien, Wien 2011, 17-44.
[5] Gabriele Lingelbach (Hg.): Narrative und Darstellungsweisen der Globalgeschichte. München 2022. Holger Thünemann: Geschichte in der Pluralität der Zeiten, in: Manuel Köster (Hg.): Zeit. Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 2023, Göttingen 2023, 55.
[6] Stephan Friedrich Mai / Alexander Preisinger: Digitale Spiele und historisches Lernen. Frankfurt 2020, 28. Tobias Winnerling: Farbenfroher Kolonialismus und historische Dissimulation. Die Diskussion um die "Anno"-Serie, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 74 (2023), 140-151.
Jan Siefert