Rezension über:

Stephan Stach: Nationalitätenpolitik aus der zweiten Reihe. Konzepte und Praktiken zur Einbindung nationaler Minderheiten in Piłsudskis Polen (1926-1939) (= Polen: Kultur - Geschichte - Gesellschaft; Bd. 4), Göttingen: Wallstein 2024, 416 S., 11 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-3101-3, EUR 39,90
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Rezension von:
Stephanie Zloch
Institut für Geschichte, Technische Universität, Dresden
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Stephanie Zloch: Rezension von: Stephan Stach: Nationalitätenpolitik aus der zweiten Reihe. Konzepte und Praktiken zur Einbindung nationaler Minderheiten in Piłsudskis Polen (1926-1939), Göttingen: Wallstein 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 9 [15.09.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/09/40622.html


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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Stephan Stach: Nationalitätenpolitik aus der zweiten Reihe

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Mit seiner 2014 an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg eingereichten Dissertation macht Stephan Stach auf einen Ansatz der Nationalitätenpolitik im seit 1918 unabhängigen Polen aufmerksam, der nach dem Zweiten Weltkrieg in Vergessenheit geraten sei. Bei diesem Ansatz, den Stach als liberale oder integrative Nationalitätenpolitik bezeichnet, ging es darum, Vertrauen zwischen den politischen Vertretern verschiedener nationaler Gruppen zu schaffen und Konflikte durch Kompromisse zu überwinden. Prägend für die Jahre insbesondere nach dem Putsch Józef Piłsudskis im Mai 1926 war die "Idee einer gemeinsamen Staatlichkeit" (10). Damit wendet sich Stach in seiner Einleitung gegen eine in Teilen der Wissenschaft verbreitete Tendenz, Polen in der Zwischenkriegszeit durch das Prisma der Gewalt während des Zweiten Weltkriegs zu betrachten, und stellt klar: "Der Holocaust war keine Folge der Politik im unabhängigen Polen seit 1918" (13). Vielmehr verfolgt Stach das Ziel, die Zweite Republik aus eigenem Recht zu betrachten und die Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte der handelnden Zeitgenossen ernst zu nehmen.

Im Mittelpunkt stehen das Warschauer Institut für Nationalitätenforschung (Instytut Badań Spraw Narodowościowych, IBSN) und die mit ihm verbundenen Akteure "aus der zweiten Reihe", die also keine hohen Staatsämter bekleideten, wie Stanisław Józef Paprocki, Tadeusz Hołówko, Aleksander Hafftka oder Ivan Kedryn. Da das Hausarchiv des IBSN nicht mehr erhalten ist, sind die Überlieferungen des polnischen Innen- und Außenministeriums und des Ministerrats sowie die Zeitschriften Sprawy Narodowościowe und Biuletyn Polsko-Ukraiński von zentraler Bedeutung. Hinzu kommen Nachlässe und Memoiren, die Stach zum Teil in den USA vorgefunden hat, wo er etwa die Nachfahren von Hafftka kontaktieren konnte.

Die Arbeit ist chronologisch gegliedert und wird mit zwei Fallstudien zur jüdischen und ukrainischen Minderheit beschlossen. Das erste Kapitel widmet sich den innen- und außenpolitischen Rahmenbedingungen nach 1918 und stellt die Anfänge des IBSN sowie die nationalitätenpolitischen Konzepte von Stanisław Bukowiecki, Tadeusz Hołówko und Stanisław Thugutt vor. Bereits in den frühen 1920er Jahren bildete sich unter den mehrheitlich rechtsgerichteten Regierungen eine eher linksliberale Expertise in der Nationalitätenpolitik heraus. Im zweiten Kapitel steht die institutionelle Aufwertung der Nationalitätenpolitik nach 1926 im Blickpunkt, die sich in der zeitweilig engen Kooperation des IBSN mit der Nationalitätenabteilung im Innenministerium sowie mit diversen Expertenkommissionen auszeichnete. Allerdings waren bereits in dieser Phase repressive Momente zu beobachten. So schildert Stach ausführlich die Niederschlagung der belarusischen Hramada-Bewegung in Nordostpolen 1927. Das dritte Kapitel widmet sich der Zeit von 1928 bis 1930. Anhand der Artikel in den Sprawy Narodowościowe und der ersten politischen Kontakte zur Ukrainischen Nationaldemokratischen Vereinigung (UNDO) macht Stach eine Spaltung innerhalb der liberalen Nationalitätenpolitik in Anhänger der Regierung und der linken Opposition aus. Das vierte Kapitel thematisiert die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise und legt den Schwerpunkt auf die Entwicklungen bei der ukrainischen Minderheit. Neben Regelungen zum Rechtsstatus der orthodoxen Kirche, dem Wirken von Henryk Józewski als Innenminister und Woiwode von Wolhynien sowie der aufkommenden geopolitischen Idee des Prometheismus gehörte hierzu auch die gewaltsame "Pazifizierung" in Ostgalizien im Vorfeld der Sejm-Wahlen 1930. Das Kapitel schließt mit dem Mord an Tadeusz Hołówko 1931, dessen Verursacher im Umfeld der radikalen Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) vermutet wurden.

Dass trotz eines zunehmend autoritären Kurses in der Nationalitätenpolitik die Geschichte prinzipiell offen war und von den Zeitgenossen auch so erlebt wurde, verdeutlicht das fünfte Kapitel, in dem Stach zunächst das im IBSN angesiedelte Seminarium Narodowościowe (Nationalitätenseminar) als ein nicht nur politisches, sondern auch geselliges Netzwerk mit Vertretern nationaler Minderheiten vorstellt. Ein zweiter Schwerpunkt gilt dem von Włodzimierz Bączkowski und Konstanty Symonolewicz jr. ab 1932 herausgegebenen Biuletyn Polsko-Ukraiński, das den wechselseitigen Dialog voranbringen sollte. Drittens wird die Verwissenschaftlichung der Nationalitätenfrage thematisiert, die vor allem ein groß angelegtes interdisziplinäres Forschungsprojekt zur Woiwodschaft Polesien beinhaltete. Dagegen zeigt das sechste Kapitel den raschen Niedergang der liberalen Nationalitätenpolitik durch die politischen Neuformierungen nach Piłsudskis Tod 1935. Das neue Regierungslager näherte sich der nationalistischen Rechten an und brach nach Einschätzung von Stach mit dem Grundsatz der Gleichheit aller Staatsangehörigen Polens, während in Vorahnung des kommenden Krieges die Gebiete im Osten Polens zunehmend unter dem Aspekt der militärischen Verteidigung betrachtet wurden.

Die beiden letzten Kapitel vertiefen spezifische Fragen der jüdischen und ukrainischen Minderheit. Im siebten Kapitel wird der Rechtsstatus der jüdischen Gemeinden behandelt, der grundsätzlich die Frage nach einer religiösen oder nationalen Definition des Judentums berührte. Darüber hinaus dominierten der Streit um die Sonntagsruhe und Hilfen für Handel und Handwerk in der Weltwirtschaftskrise die einschlägige Debatte; in beiden Fällen wurden bis 1939 keine Lösungen erreicht. Im achten Kapitel steht die ukrainische Minderheit in Ostgalizien im Blickpunkt. Ohne die politischen und emotionalen Nachwirkungen der kurzlebigen Westukrainischen Volksrepublik 1918/19 zu negieren, legt Stach den Akzent auf die Verständigungsbereitschaft der UNDO und stellt Konzepte von Stepan Tomašivs'kyj und Ivan Kedryn vor, die auf eine territoriale Autonomie und kulturelle "Europäisierung" der Westukraine bei Anerkennung der Oberhoheit des polnischen Staates hinausliefen.

Das Buch endet mit dem Jahr 1939, während die Einleitung noch mit rückblickenden Zitaten von Paprocki, Kedryn und Hafftka aus den Jahren bis 1942 aufgewartet hatte. Dieser Faden wird nicht wieder aufgenommen, was bedauerlich ist, denn er hätte interessanten Aufschluss darüber geboten, in welchen Medien und Netzwerken überlebende Akteure wie Kedryn oder Hafftka in den nordamerikanischen Diasporen ihre Narrative veränderten, um sich nicht mehr als loyale Staatsbürger der Zweiten Republik darstellen zu müssen. Mit der Auslassung der Nachkriegsschicksale fällt es auch schwer, in der Arbeit einen biografischen Zugang zu erkennen, den Stach in der Einleitung angekündigt hat, wenn auch in der zurückhaltenden Formulierung, die "Wechselwirkungen zwischen biographisch geprägten Handlungsmustern und institutionellen Sachzwängen" zu untersuchen (19). Aber hierfür stellt die Arbeit zu wenig Material zu Herkunft, Ausbildung oder außerberuflichem Leben der Akteure bereit. Es ist methodisch fraglich, ob ein akteurszentrierter Zugang mit einem biografischen Zugang gleichzusetzen ist. Die Akteure sind vor allem durch ihre Überlegungen zur Nationalitätenpolitik im Sinne der in der polnischen Historiografie zeitweise sehr beliebten Studien zum politischen Denken präsent. Schließlich sei angemerkt, dass die Studie überwiegend den Literaturstand von 2014 abbildet.

Mit dieser Arbeit liegt eine sehr ausgewogene, lesens- und bedenkenswerte Perspektive auf die Geschichte Polens in der Zwischenkriegszeit vor, deren Anliegen, die "Suche nach einer konsensualen Lösung der Nationalitätenproblematik" (14) neu ins historische Bewusstsein zu heben, von höchst aktueller Relevanz auch für heutige, von Migration und Multiethnizität geprägte Gesellschaften ist.

Stephanie Zloch