Ralf Scharf: Der Dux Mogontiacensis und die Notitia Dignitatum. Eine Studie zur spätantiken Grenzverteidigung (= Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde; Bd. 50), Berlin: De Gruyter 2005, 352 S., ISBN 978-3-11-018835-6, EUR 98,00
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Der dux Moguntiacensis ist ein nur in der Notitia dignitatum bezeugtes Amt des spätrömischen Militärs. In der vorliegenden Studie werden die Eintragungen zu diesem in Mainz stationierten Befehlshaber in weitausgreifende Analysen der "spätantiken Grenzverteidigung" im Westreich eingebettet. Dabei werden zwei Ziele verfolgt. Zum einen sollen die politisch-militärischen Entwicklungen vornehmlich im gallisch-germanischen Raum genauer als bisher erfasst werden; zum anderen soll die Untersuchung einen Beitrag zum Verständnis der Notitia, vornehmlich ihrer Datierung und Zielsetzung leisten. Am Ende sind die beiden Ebenen dann wieder eng verknüpft: Scharf formuliert die These, dass die Position des dux Moguntiacensis erst kurz vor der Redaktion der Notitia geschaffen worden sei, die er wiederum in den Kontext der Thronbesteigung des Kaisers Johannes am 20. November 423 datiert.
Teil I (9-59) präsentiert eine Rekonstruktion der Entwicklung der militärischen Lage der Rheingrenze in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts. Teil II (61-111) analysiert Ort, Darstellungsform und Inhalt des Notitia-Kapitels über den dux Moguntiacensis. Teil III (113-149) zeichnet "Ereignisse und Truppenbewegungen 395-425" nach, in die dann Beobachtungen zum Verhältnis verschiedener Truppenlisten in der Notitia (Teil IV: 151-183), als Katalog aufgearbeitete archäologische Befunde zu den "Ziegeln der Mainzer Truppen" (Teil V: 185-219) und die Rekonstruktion der "Geschichte der Mainzer Truppen" (Teil VI: 221-282) eingefügt werden. Teil VII (283-316) resümiert die wichtigsten Gegenstände der Untersuchung und begründet die zentrale These.
Diese richtet sich entschieden gegen die in der Forschung lange wegweisenden Studien von Herbert Nesselhauf [1] und vor allem von Dietrich Hoffmann [2], für die der Rheinübergang germanischer Stämme in der Silvesternacht 406/407 [3] das Ende einer systematischen römischen Grenzverteidigung am Rhein herbeigeführt hatte. Die Bedeutung dieses Ereignisses als entscheidender Zäsur sieht Scharf durch archäologische Befunde und durch Analysen der Voraussetzungen der militärischen Auseinandersetzungen der folgenden Jahre infrage gestellt. Ein weiterer wesentlicher Ausgangspunkt für seine Überlegungen ist eine 1977 von Thomas Drew-Bear publizierte Inschrift [4], die eine für Hoffmanns Gesamtinterpretation wichtige These über eine Heeresteilung im Jahre 364 schwer erschüttert habe. Scharf macht auf diese grundlegenden Zusammenhänge zunächst in der Einführung aufmerksam, wo er bemerkt, dass "durch eine Anfang der 70er Jahre in Kleinasien entdeckte Inschrift klar geworden ... [sei], daß die Thesen Hoffmanns in zentralen Bereichen seiner Arbeit nicht mehr zu halten waren" (2). Aber erst im einleitenden Abschnitt von Teil VI (221-225) werden unvermittelt die zugehörigen Befunde und Überlegungen dargelegt, die in einer bitteren und unnötigen Polemik gegen diejenigen gipfeln, für die die durch den Inschriftenfund entstandene neue Quellenlage nur zur Modifikation, nicht aber zur Aufgabe von Hoffmanns Rekonstruktionen zwinge: Man könne sehen, "wie einfach es ist, sich ohne eigene Gedanken um die Problematik herumzuwinden. [...], aber der unerschütterliche Glaube an eine nicht mehr haltbare These versetzt bekanntlich Berge" (225). Dieses Beispiel illustriert manche der Stärken und der Schwächen des Buches: Scharf ist ein subtiler Kenner der Truppen- und Truppenorganisationsgeschichte des spätrömischen Heeres ebenso wie der Forschungsgeschichte der Notitia dignitatum. Seine Ausführungen sind geprägt durch einen selbstständigen und originellen Umgang nicht nur mit der literarischen und epigrafischen Überlieferung, sondern auch mit den für Historiker oft schwer zu überschauenden archäologischen Befunden. Diese Kennerschaft erschließt sich aber einer mit den Details der Diskussion weniger vertrauten Leserschaft wohl nur mit großer Mühe: Wesentliche Informationen, die bereits in der Einleitung gegeben werden müssten, folgen erst Hunderte von Seiten später, bei Textinterpretationen werden die einschlägigen Stellen zu oft nicht oder nicht im Original zitiert, der Zusammenhang der einzelnen Teile bleibt zu lange unklar. Unverständlich ist auch, warum Abbildungen der doch ausführlich besprochenen Miniaturen der Notitia ebenso fehlen wie Karten, auf denen sowohl die antiken als auch die modernen Namen zu finden wären. Das Buch erscheint als Protokoll eines Selbstgesprächs voller Bitterkeit. Die Aufmerksamkeit und die kritische Diskussion, die es wegen seiner vielen originellen Ansätze im Allgemeinen und im Speziellen verdient, wird es nur schwer finden. Schade!
Anmerkungen:
[1] Herbert Nesselhauf: Die spätrömische Verwaltung der gallisch-germanischen Länder, Berlin 1938.
[2] Dietrich Hoffmann: Das spätrömische Bewegungsheer und die Notitia dignitatum, Düsseldorf 1969/70.
[3] Zu den jüngst formulierten Zweifeln an diesem Datum bei M. Kulikowski: Barbarians in Spain, Usurpers in Britain, in: Britannia 31 (2000), 325-345, und L. Schumacher: Mogontiacum. Garnison und Zivilsiedlung im Rahmen der Reichsgeschichte, in: M. J. Klein (Hg.): Die Römer und ihr Erbe, Mainz 2003, 1-28, bes. 23-24, vgl. nun im hier zu besprechenden Werk, 120-124.
[4] Th. Drew-Bear: A Fourth-Century Latin Soldier's Epitaph at Nacolea, in: Harvard Studies in Classical Philology 81 (1977), 257-274; dazu schon R. Scharf: Seniores-iuniores und die Heeresteilung von 365, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 89 (1991), 265-272.
Tassilo Schmitt