Rezension über:

Bernd Greiner: Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam, Hamburg: Hamburger Edition 2007, 595 S., 60 s/w-Abb., ISBN 978-3-936096-80-4, EUR 35,00
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Rezension von:
Sönke Kunkel
Harvard University, Cambridge, MA
Redaktionelle Betreuung:
Jost Dülffer / Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Sönke Kunkel: Rezension von: Bernd Greiner: Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam, Hamburg: Hamburger Edition 2007, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 1 [15.01.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/01/13787.html


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Bernd Greiner: Krieg ohne Fronten

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Es gibt eine Szene in Peter Davis' Dokumentarfilm "Hearts and Minds" (1974), in der William Westmoreland, Oberkommandierender in Vietnam zwischen 1965 und 1968, lapidar feststellt: "The Oriental doesn't put the same high price on life as does the Westener". [1] Man kann diese Aussage bestenfalls als einen Ausdruck von Ratlosigkeit über den nicht abnehmenden vietnamesischen Widerstandswillen interpretieren; andererseits kann man Westmoreland aber auch so verstehen, dass es im Grunde unerheblich ist, ob der Krieg nun zwei, drei oder vielen Vietnamesen das Leben kostet (die Schnittsequenzen des Films suggerieren letzteres). Zu welcher Ansicht man auch neigt: in jedem Fall verweist Westmoreland auf eine Dimension des Vietnamkrieges, die Bernd Greiner nun im Detail untersucht - das hohe Maß an Gewalt.

Bernd Greiner ist, um es vorwegzunehmen, ein hervorragendes Buch gelungen. Dem Anspruch nach eine "Gewaltgeschichte des Krieges" (33), kreist es seinen Gegenstand aus mehreren Richtungen ein, beschreibt zunächst die Voraussetzungen amerikanischer Gewalt, um dann in drei Detailstudien zur "Tiger Force", zur "Task Force Barker" und zur 9. Infanterie Division die Ausweitung des Krieges auf die vietnamesische Zivilbevölkerung nachzuzeichnen. Der Schwerpunkt liegt auf dem Massaker von My Lai (4). Greiner schreibt dabei durchweg engagiert und aus der Tradition einer aufklärenden Historie heraus, deren Anliegen es ist, Lehren aus der Geschichte zu ziehen oder doch zumindest gegen deren Missachtung anzuschreiben. [2]

Was aber ist so außerordentlich an dieser Gewaltgeschichte? Über den Vietnamkrieg wird schließlich schon seit dreißig Jahren geschrieben, kaum ein Krieg ist derart intensiv erforscht worden. Seit David Halberstam 1972 mit "The Best and the Brightest" ein Gruppenporträt der amerikanischen Kriegselite veröffentlichte, herrschte freilich die Tendenz vor, Vietnam aus der wohl distanzierten Sicht des Weißen Hauses zu schildern. Es ging vornehmlich um regierungsinterne Entscheidungs- und Diskussionsprozesse, die US-Intervention galt als fehlgelaufene Eindämmung ("flawed containment"). Solchen Ansätzen war gemein, dass der Krieg nur in der Distanz erschien, als abstrakte Größe zwar erwähnt, aber nicht konkret beschrieben wurde. Bernd Greiner dagegen stößt zum Kern vor - und führt uns mitten in den Wahnsinn eines Dschungelkampfs, in dem sich Kompanien Namen wie "Assassins", "Barbarians" oder "Cutthroats" (228) gaben, wie Todesschwadronen durch die Dörfer zogen, dabei wahllos mordeten, Zivilisten die Kehlen aufschlitzten oder ihre Gliedmaßen abtrennten.

Gewalt hatte viele Gesichter. Sie brach über die vietnamesische Zivilbevölkerung in Form von Vergewaltigungen, üblen Folterpraktiken oder "free fire zones" ein, in denen auf alles und jeden geschossen wurde und sich Kompanien reihenweise in orgiastische Gewaltexzesse fantasierten. Wer das überlebte, konnte schon von der nächsten Patrouille in kontrollierter Tötungsarbeit hingerichtet werden. Bernd Greiner beschreibt dies alles schonungslos und präzise, nicht ohne Furor, aber ohne die in diplomatiegeschichtlichen Untersuchungen häufig mitschwingenden metaphorischen Ästhetisierungen des Krieges.

Und Bernd Greiner erklärt, systematisiert, arbeitet die Bedingungen jener entfesselten Gewalt heraus. Als entscheidend betrachtet er die Konstellation eines asymmetrischen Psychokrieges mit aufgelösten Fronten, in dem vietnamesische Guerillakämpfer in die Zivilbevölkerung abtauchten, jene aus kriegstaktischem Kalkül häufig bewusst in die amerikanische Schusslinie zog (und terrorisierte), nur um aus der zivilen Deckung heraus plötzlich und überraschend zuzuschlagen - eine Zermürbungstaktik, auf welche die USA mit militärischer Eskalation reagierten.

Allerdings galt genauso: "Wer sich auf einen asymmetrischen Krieg ohne klare Fronten einlässt, muss über ein Reservoir von Vorgesetzten verfügen, die militärische Expertise mit politischem Sachverstand verbinden und die Konsequenzen ihres Handelns auch und gerade unter moralisch-ethischen Gesichtspunkten wägen" (122). Tatsächlich weisen Bernd Greiners differenzierte Überlegungen hier über das Moment des asymmetrischen Krieges hinaus und berühren das viel grundsätzlichere Problem einer spezifischen amerikanischen militärischen Kultur. Denn genau betrachtet entwirft der Autor eine Kategorientafel der Bedingungen von Gewalt, nach der sich die Dekompensierung amerikanischer Soldaten auf den Kollaps mehrerer Kontrollinstanzen zurückführen lässt.

Rechtlich waren dies das Kriegsrecht und die Rules of Engagement. Während ersteres zum größten Teil gar nicht erst gelehrt wurde, krankten letztere an inneren Widersprüchen oder wurden kurzerhand außer Kraft gesetzt. Hinzu kam eine Ausbildung, die auf eine Schärfung der "savage instincts" (182) abzielte und die Grenze zwischen Feind und Zivil bewusst auflöste. So versagte immer häufiger die Selbstkontrolle der Soldaten und schlug in eine "Selbstermächtigung zur exzessiven Gewalt" (193) um. Auch Vorgesetzte der mittleren Führungsebene fielen als Kontrollinstanzen aus, denn hier tobte ein bizarrer Konkurrenzkampf um Karrierewege und Aufstiegsmöglichkeiten. Weil als Beförderungskriterium der Body Count herangezogen wurde, wurden Kriegsverbrechen nicht nur geduldet, sondern aktive Bilanzaufbesserungen durch willkürliche Übergriffe gegen Zivilisten geradezu notwendig. Fehlte zuletzt noch eine politische Führung, die in einem symbolisch überproportional aufgeladenen Krieg auf einen Sieg um jeden Preis drängte.

Vom Paradigma der Gewalt her gedacht, eröffnet diese Studie somit eine ganze Reihe neuer Perspektiven. Denkbar wäre es etwa, Bernd Greiners Mehrebenenmodell vergleichend auf andere amerikanische Kriege anzuwenden: Warum versagten in Vietnam Kontrollmechanismen, die in anderen Fällen funktionierten? Welche Kontinuitäten lassen sich feststellen? Auch Vergleiche mit Kriegen ohne amerikanische Beteiligung bieten sich an, zumal zum Algerienkrieg. Wie weit reichen die Ähnlichkeiten, wo liegen Unterschiede? Welche Auswirkungen hatte die asymmetrische Frontstellung auf den Grad an Gewalt, inwiefern kann man sie auf eine amerikanische militärische Kultur zurückführen? Aus der historischen Halbtotalen betrachtet ließe sich Greiners Gewaltgeschichte zugleich in den größeren Kontext der Dekolonisierung einordnen. Wenn Frantz Fanon Gewalt als therapeutisches Heilungsmittel der Kolonisierten anpries und in den Vereinigten Staaten die Bereitschaft dominierte, alle Kontrollen auszuschalten, könnte man Gewalt dann nicht auch als endemisch für das Zeitalter der Dekolonisierung ansehen? Schuf die Dekolonisierung neue Formen und Qualitäten der Gewalt?

Einerseits ließen sich so die Besonderheiten des Vietnamkrieges bzw. einer strukturellen amerikanischen Disposition zur Gewalt noch klarer herausarbeiten. Andererseits könnten die hier skizzierten Perspektiverweiterungen einer Gewaltgeschichte der Dekolonisierung, potenziell auch des zwanzigsten Jahrhunderts den Weg ebnen, die über Niall Fergusons jüngsten Versuch hinausweist. Im Vergleich zu den Weltkriegen ließe sich in diesem Zusammenhang auch kritisch reflektieren ob und inwiefern der Vietnamkrieg ein totaler Krieg war.

Im engeren Kontext des Vietnamkrieges fordert Greiners Studie dazu heraus, die Gewaltgeschichte der Bodentruppen um die Dimension des Bombenkrieges zu ergänzen - um so mehr, als dieser nicht nur andere Formen der Gewalt zeitigte, sondern dem Vietnamkrieg auch eine symmetrische Komponente verlieh. Wie gingen asymmetrische und symmetrische Gewalt zusammen und inwiefern unterlagen sie anderen oder eben ähnlichen Voraussetzungen? Mit Blick auf den letzten Abschnitt des Buches, in dem die Vertuschung und Verharmlosung amerikanischer Kriegsverbrechen beschrieben wird, könnten die Überlegungen des Autors eine Diskursanalyse anregen, die nach den Taktiken der amerikanischen Diskurskontrolle fragt, Strategien der Tabuisierung freilegt und die Gründe für das lange öffentliche Beschweigen amerikanischer Kriegsverbrechen herausarbeitet.

So lässt sich festhalten: Bernd Greiner hat ein aufrüttelndes Buch geschrieben, das die konventionellen Wege der Forschung gründlich revidiert und zu vielfachen historischen Neubestimmungen auffordert. Man mag den Vietnamkrieg zwar weiterhin abstrakt als amerikanische Glaubwürdigkeitsfalle oder globales Ereignis begreifen. Aber dieses Buch macht überzeugend deutlich, dass er vor allem eines war: ein Exzess der Gewalt, in dem der erklärte amerikanische Kampf um die "hearts and minds" der vietnamesischen Zivilbevölkerung rasch zu einer grotesken Phrase wurde.


Anmerkungen:

[1] Peter Davis: Hearts and Minds, Irvington, New York 2002 (DVD).

[2] Greiner stellte erst kürzlich einen expliziten Bezug zwischen Vietnam- und Irakkrieg her. Bernd Greiner: "Aus gegebenem Anlass. Ein Krieg, der mit einer Lüge begann und im Desaster enden musste", Mittelweg 36, 16 (2007), Heft 5, 4-16.

Sönke Kunkel