Rezension über:

Andrea Meyer: Deutschland und Millet (= Passagen / Passages. Deutsches Forum für Kunstgeschichte / Centre allemand d'histoire de l'art; Bd. 26), München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2009, XI + 274 S., ISBN 978-3-422-06855-1, EUR 48,00
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Rezension von:
France Nerlich
Université François Rabelais, Tours
Redaktionelle Betreuung:
Ekaterini Kepetzis
Empfohlene Zitierweise:
France Nerlich: Rezension von: Andrea Meyer: Deutschland und Millet, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 10 [15.10.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/10/15094.html


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Andrea Meyer: Deutschland und Millet

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Andrea Meyer ist den Forschern, die sich mit deutsch-französischen Kunstbeziehungen beschäftigen, bereits bekannt, hat sie doch zusammen mit Andreas Holleczek im Jahr 2004 den Sammelband Französische Kunst - deutsche Perspektiven 1870-1945: Quellen und Kommentare zur Kunstkritik in der gleichen Reihe der Passagen/Passages beim Akademie-Verlag herausgegeben. [1] In diesem Band wurden ausgewählte Texte der deutschen Kunstkritik kommentiert, die exemplarisch über die ästhetischen und ideologischen Positionen gegenüber der französischen Kunst Auskunft geben sollten. Er gehört zu den Publikationen des großen, von Thomas W. Gaehtgens am Deutschen Forum für Kunstgeschichte in Paris initiierten Forschungsprojekts zur Wahrnehmung deutscher Kunst in Frankreich und französischer Kunst in Deutschland. Mit Jean-François Millet vertieft Meyer in ihrer Dissertation anhand eines besonderen Fallbeispiels das Problem der transnationalen Rezeption. Dabei präzisiert sie ihren Ansatz in der Transferforschung, mit deren Methoden sie sich intensiv auseinandergesetzt hat. Ihre Arbeit konzentriert sich also vor allem auf die Fragen des Kunstdiskurses im historischen Kontext, versucht aber auch - da die Objekte des Diskurses Bilder sind - den Aspekt der Visualität der Medien und dabei insbesondere die Bedeutung der Druckgrafiken am Ende des 19. Jahrhunderts zu berücksichtigen.

Millet, dessen poetische Darstellungen von Bauern inzwischen auf Postern und Kalendern Verbreitung fanden und im Musée d'Orsay für Andrang sorgen, wird in den meisten aktuellen Handbüchern als einer der wichtigsten Vertreter des französischen Realismus vorgestellt - neben Honoré Daumier und Gustave Courbet. Letzterem widmete Werner Hofmann 1978 in der Hamburger Kunsthalle eine große Ausstellung, mit der ein wesentlicher Beitrag zur Kenntnis der Beziehungen von Courbet zu Deutschland und vor allem zu den deutschen Malern geleistet wurde. [2] Ein Vierteljahrhundert später untersuchte Hofmann das Verhältnis von Daumier und Deutschland in einem kurzen Text, der in der - vom Deutschen Forum für Kunstgeschichte herausgegebenen - Reihe Passerelles erschien. [3]

Zu Millet und Deutschland aber gab es bis jetzt keine grundlegende und umfassende Untersuchung. Diese Lücke füllt nun Meyer mit einer Arbeit, die vom Ansatz und der Methode her eine andere Fährte als Hofmann erprobt. Interessant ist, dass die Rezeption von Millet in Frankreich, England und den USA bereits untersucht wurde, wobei auf die herausragende Stellung des Künstlers in seiner Zeit hingewiesen wurde. Eine solche hagiografische Tendenz ist immer fragwürdig, denn Millet hat keinesfalls stärker "als jeder andere bedeutsame Maler des 19. Jahrhunderts seine Zeitgenossen inspiriert und beleidigt, verwundert und gefesselt", wie Meyer unter Verweis auf Griselda Pollock anmerkt (3). Es ist auch gar nicht nötig, aus dem tatsächlich sehr stark diskutierten Maler einen Helden zu machen, da allein schon die zahlreichen zeitgenössischen und posthumen Auseinandersetzungen mit seinem Œuvre genug spannendes Material liefern.

Meyer muss aber ihren Ansatz rechtfertigen, da die Rezeption französischer Malerei im Allgemeinen und von Millet insbesondere für das 19. Jahrhundert immer wieder unterschätzt wurde. So wurde bis jetzt angenommen, dass Millets Bilder in Deutschland kaum Beachtung fanden (im Gegensatz etwa zu den USA oder England) und daher dort keinen wesentlichen Eindruck hinterlassen konnten. Außerdem muss sich Meyer auch gegen andere "Hagiografien" behaupten, in denen Millet unter anderem hinter Courbet zu rangieren pflegt. Es gilt hier also mehrere festgefahrene Ideen abzubauen - das mangelnde Interesse der Deutschen an Millet - oder zu klären - die spezifische Rolle von Millet in der französischen Kunstszene seiner Zeit.

Meyer gelingt es, zu zeigen, dass Millet tatsächlich eine wichtige Rolle in der deutschen Kunstkritik und -Geschichte gespielt hat. So wurden seine Bilder u.a. wegen ihrer ausgeklügelten Balance zwischen Realismus und Idealismus in den Texten der deutschen Kunstkritik seit der Mitte des 19. Jahrhunderts aufmerksam untersucht. Dabei muss man anmerken, dass die Polarität zwischen Realismus und Idealismus seit dem Ende des 18. Jahrhunderts ein Leitmotiv der deutschen Kunstkritik in der Wahrnehmung von französischer Kunst war. Die krude Widergabe von Materie und Leben wurde oft als typisch französisches Phänomen gedeutet, das im krassen Gegensatz zum deutschen Idealismus stünde, auch wenn manche deutsche Kunsthistoriker wie Anton Springer eine derartige "Nationalisierung" des Stils strikt ablehnten. Eine solche Debatte ging aber über die nationale Frage hinaus. Als Leitmotiv der deutschen Kunstkritik gegenüber der französischen Kunst erkennt Meyer zwar richtig die Angst vor der Eroberung, der nationalen Entfremdung und dem Verlust der eigenen Identität. Doch auch wenn sie mit Recht auf die lange Tradition des Misstrauens gegenüber Frankreich verweist, verbindet sie diese Grundtendenz vielleicht etwas zu stark mit dem Konflikt von 1870 zwischen Preußen und Frankreich, was das Problem der allzu engen Vernetzung von politischen Ereignissen und kunstkritischem Diskurs aufwirft. Es stimmt, dass in den deutschen Texten die französische Malerei als Ausdruck der französischen Nation interpretiert wurde, gar als Spiegel der ganzen Epoche. Diese Überzeugung beruhte aber auf einer seit den 1830er Jahren immer wieder entfachten Debatte über den zeitgemäßen Ausdruck der modernen Kunst und auf der Feststellung, dass die Franzosen im Gegensatz zu den Deutschen ihre Geschichte seit der Französischen Revolution in Bildern fassen konnten. So tauchten in den Texten von Anton Springer über Carl Gustav Carus und "Amateure" wie Athanasius von Raczyński bis zu Julius Meyer immer wieder Überlegungen zur französischen Kunst als "Spiegel einer ganzen Epoche" auf, die nicht notwendig negativ gemeint waren, sondern eher als Anregung für die eigene zeitgenössische Kunstpraxis verstanden werden sollten. Dass die Salonmalerei des Second Empire, wie die des ersten, von manchen deutschen Autoren auch als Ausdruck der moralischen Verirrung der ganzen Gesellschaft gedeutet werden konnte, hat damit weniger zu tun. Es handelt sich dabei um eine andere "Variante" der zahlreichen Topoi des kunstkritischen Diskurses, die sich aber bei näherem Hinsehen als keine spezifisch deutsche Erscheinung erweist, da die Meinungen der französischen und deutschen Kritiker in diesem Punkt oft miteinander übereinstimmten. Interessant zu sehen ist, wie Millet in diesem Zusammenhang vom politisch subversiven Künstler um 1848 zum idealistischen Realisten umgedeutet wird, wobei die ästhetische Debatte ganz klar ideologisch geprägt ist.

Der zentrale Aspekt der vorliegenden Arbeit liegt in der Rezeption Millets im Deutschen Kaiserreich. Meyer unternimmt diesbezüglich eine außerordentlich gründliche Text- und Diskursanalyse, die nie den historischen Hintergrund aus den Augen verliert und über Autoren, Kunstorgane und Kunstliteratur wichtige Informationen liefert. Als "Vorgeschichte" werden exemplarisch die Positionen von Julius Meyer, Ludwig Pfau und die Reaktionen auf der Internationalen Kunstausstellung von 1869 untersucht. In der Folge achtet Andrea Meyer immer auf eine klare Darstellung des Kontextes, um den Übergang vom realistischen zum mythisierten und "germanisierten" Bauernmaler im Deutschen Kaiserreich deutlich zu machen. Sie widmet der Darstellung der aufkommenden "Germanenideologie" mehrere erhellende Passagen, um die von der Kunstliteratur betriebene Anpassung Millets an die "germanischen Tugenden" zu verdeutlichen. Dabei verweist sie immer wieder auf das spezifisch "germanisierende" Vokabular, das nicht für die Beschreibung seines Œuvres, sondern auch seiner Person und Persönlichkeit benutzt wird. Sie zeigt auch, wie die massive Verbreitung seiner Bilder durch die neuen Reproduktionstechniken sein Œuvre zugänglich und populär machte. Dabei richtet sie ihr Augenmerk auf die Verwandlung der Bilder, die Umdeutung der Formen und das Abdriften des Diskurses weg von der tatsächlichen Kenntnis der originalen Tafelbilder. Man erkennt hier die methodologische Schärfe der Transferforschung, auf die sich Meyer beruft, da sie nicht nur den Hintergrund, vor dem sich der ästhetische Diskurs entfaltet, mitbeleuchtet, um die tatsächliche Rezeption von Millet offenzulegen, sondern in der Wahrnehmung des Künstlers einen Schlüssel zur Einstellung der Vermittler findet: Die eigentümliche Rezeption von Millet in Deutschland gibt in der Tat Aufschluss über das intellektuelle und ideologische Klima des Deutschen Kaiserreichs und die Etappen der Nationalisierung des Kunstdiskurses.

Die Verfasserin hätte ihre Untersuchung vielleicht um eine weitere Dimension erweitern können, wenn sie sich mehr mit Archivmaterial auseinandergesetzt hätte, sei es im Zusammenhang mit den Autoren, sei es mit der tatsächlichen Sichtbarkeit des Œuvres in Deutschland (Ausstellungen, Markt, Privatsammlungen, Kunstvereine). Die Gründlichkeit ihrer Untersuchung und die methodologische Klarheit aber sind beispielhaft. Andrea Meyer liefert damit ein weiteres Referenzwerk für die Erforschung der deutsch-französischen Kunstbeziehungen. Dass auf der Weltausstellung in Shanghai im Jahr 2010 Millets Ährenleserinnen im französischen Pavillon ausgestellt werden, zeigt, dass er im nationalen Diskurs immer noch präsent ist.


Anmerkungen:

[1] Siehe Rezension von Bénédicte Savoy in Kunstform 6 (2005), Nr. 5, http://www.arthistoricum.net/index.php?id=276&ausgabe=2005_05&review_id=7029.

[2] Werner Hofmann (Hg.): Courbet und Deutschland (Ausstellungskatalog Hamburg / Frankfurt am Main, Hamburger Kunsthalle / Städelsches Kunstinstitut 1978 / 1979), Hamburg 1978.

[3] Werner Hofmann: Daumier und Deutschland, München 2004.

France Nerlich