Geschenktipps zu Weihnachten

Thomas Großbölting, Münster


Vorschläge für den Gabentisch zum Schenken und Sich-selbst-Schenken-lassen

"Für die Kinder" und zum Selberlesen:
Ewald Frie: Das Schokoladenproblem. Die Verfassung von Nordrhein-Westfalen jungen Menschen erzählt, Köln 2009.

Wen hat sie noch nicht umgetrieben, die bange Frage, wer unsere Bücher eigentlich liest? Und wenn solche quälenden Gedanken einmal im Gespräch (oder in der Sonntagsrede) auftauchen, dann ist er gleich da: der Wunsch, es möge doch die nächste Generation sein, die unsere Formulierungen nicht nur zur Kenntnis nehme, sondern vielleicht gar Freude daran entwickle. Wie das gehen kann, zeigt Ewald Frie. Auch unterm Weihnachtsbaum mag sich bewähren, was als Lösung für das "Schokoladenproblem" gilt - "Ich teile, Du suchst aus". Startend mit diesem Aufhänger führt Frie seinen Lesern nicht etwa die Geschichte, sondern die Verfassung Nordrhein-Westfalens vor. Und dies tut er in einer faszinierenden Art und Weise: Er erzählt mit großer Eindringlichkeit. Nicht der Märchenonkel, sondern Fritz Fuchs bzw. Peter Lustig von "Löwenzahn" haben dabei Pate gestanden. Mit nur wenigen Details kommt er aus, um einzelne Verfassungsbestimmungen plausibel und auf dem Hintergrund historischer Entwicklungen nachvollziehbar zu machen. Dabei führt er weit über seinen Gegenstand hinaus, erzählt dann doch viel aus der Geschichte dessen, was sich heute Nordrhein-Westfalen nennt und macht fast nebenbei noch mit manchem Grundproblem historischen Forschens bekannt.


Für die reflexiven Momente im Leben I
Tony Judt: Das vergessene 20. Jahrhundert. Die Rückkehr des politischen Intellektuellen, München 2010.

Es gibt wohl nur wenige Autoren, bei denen es lohnt, die kleinen Texte wieder hervorzukramen und neu aufzulegen. Einer von denen, für die das zweifelsohne gilt, ist der in diesem Jahr verstorbene Historiker Tony Judt, der zuletzt in dem von ihm gegründeten Remarque-Institut in New York lehrte. Das vergessene 20. Jahrhundert vereint neben anderem vor allem Porträts von Persönlichkeiten, in deren Tradition auch Judt selbst steht: politische Denker, die hellsichtig analysierten und darüber zu öffentlichen Intellektuellen avancierten. Einige seiner wieder abgedruckten Miniaturen, insbesondere die Länderanalysen sind stark von ihrer jeweiligen Zeitgebundenheit geprägt. Vor allem einige der biographischen Porträts hingegen - Arthur Koestler, Hannah Arendt, Primo Levi, Manès Sperber - werden wohl zeitlos funkeln. Als "roter Faden" durchzieht verschiedene Beiträge die Frage nach der jeweiligen Haltung des Porträtierten zum Kommunismus. Dieses Kriterium ist es auch, das Judt den britischen Historiker Eric Hobsbawm stark angehen lässt. Bei aller Bewunderung für den Polyhistor kritisiert er dessen nicht eindeutige Distanzierung vom Kommunismus und hält ihm vor, "Schmerz und Schande des 20. Jahrhunderts […] irgendwie verschlafen" zu haben (siehe unten). In seiner Einleitung wie auch im Epilog ("Die Aktualität der sozialen Frage" - ein Text von 1997, der aber auch dreizehn Jahre später wenig an Aktualität verloren hat) entwickelt er darüber hinaus einige Grundlinien seines Denkens und seiner Interpretation des geschichtsvergessenen 20. Jahrhunderts: Als große Gefahr beschwört er das Zurücktreten des politischen Denkens hinter die scheinbar unvermeidlichen ökonomischen Gesetzmäßigkeiten und "Zwänge". Sein Plädoyer für einen "starken Staat" wird nicht jeder teilen - ein anregender Kontrapunkt zur aktuellen politischen Diskussion ist es allemal.


Für die reflexiven Momente im Leben II
Eric Hobsbawm: Zwischenwelten und Übergangszeiten. Interventionen und Wortmeldungen, herausgegeben von Friedrich-Martin Balzer und Georg Fülberth, 2. Aufl., Köln 2010.

Vielleicht ist es gerade die harsche Kritik Tony Judts an dem britischen Historiker Eric Hobsbawm (s.o.) die neugierig macht auf die jüngst erschienene Kompilation. Zwischenwelten und Übergangszeiten vereint Texte aus den Jahren 1966 bis 2009 mit einem Gespräch der Herausgeber mit dem Autor. Bereits 10 Jahre vor der Finanzkrise kritisierte Hobsbawm den "Irrglauben des theologischen Denkens an einen uneingeschränkten Markt". Schon lange vom orthodoxen Marxismus geläutert empfiehlt er eine Mischung von sozialstaatlichen Regulierungen und Marktelementen. Nachdenklich stimmen seine Überlegungen zur Globalisierung, die zwar ökonomisch erreicht sei bzw. erreicht werde, politisch aber nicht funktioniere. Dass ein Europäisches Recht geschaffen wurde, welches über dem nationalen stehe, bezeichnet er "historisch gesehen als eine Revolution". Eric Hobsbawm, so ist verschiedentlich geschrieben worden, betreibt Geschichte auf eine Art, die seiner zweiten Leidenschaft entspricht. Wie ein Jazz-Solist trägt er vor: Frech, schräg, sich verausgabend und ohne Kompromisse. Die Leidenschaftlichkeit kommt in den vorliegenden Texten ebenso zum Tragen wie ein striktes Beharren auf einigen Grundüberzeugungen - eine Haltung, die man auch als dickköpfig oder unbelehrbar bezeichnen kann. Ebenso faszinierende wie unbequeme Äußerungen eines geschichtswissenschaftlichen Urgesteins.


"Oh Tannenbaum" wissenschaftlich reflektiert
James A. Beckford: Social Theory and Religion, 3. Aufl., Cambridge 2008.

Historiker und Historikerinnen haben sich zunächst lange schwer getan, das Feld der Religion für sich zu entdecken und erst in den letzten Jahren aus der Not eine Tugend gemacht: Religion boomt, was wohl nicht zuletzt auch dem öffentlichen Interesse daran geschuldet ist, dem sich das Fach jetzt gerne anschließt. Vielleicht regt auch die Weihnachtszeit unabhängig davon, wie religiös musikalisch man ist, dazu an, sich diesem Thema zu widmen. Wer nach der Lektüre der Klassiker der deutschen Religionssoziologie Troeltsch, Weber und anderen nach weiteren Anregungen aus den Nachbarwissenschaften sucht, ist bei James A. Beckford hervorragend aufgehoben: "Social theory & Religion" gilt als große Summe des mittlerweile emeritierten Soziologen an der Universität Warwick. Ruhigen Schrittes durchschreitet er die verschiedenen Traditionen der mit Religion beschäftigten soziologischen Schulen und verliert dabei nie sein Ziel aus dem Blick, die Transformation des religiösen Feldes in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie auch heute angemessen zu erfassen.


Zum Schmökern und Nachdenken
Christa Wolf: Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud, Frankfurt/M. 2010.

Auf ein Buch von Christa Wolf muss man nicht besonders hinweisen, es wird auch ohne dies den Weg auf den Gabentisch finden. Obwohl sie mit dem Untergang der DDR ihren Status als Vorzeigeintellektuelle verloren hat, bleibt Wolf auch im wiedervereinigten Deutschland eine öffentliche Person. Genau diese Rolle ist es, die lesenswert machen, was der Verlag als "Roman" ausgegeben hat, in der Tat aber als eine Montage von Reiseberichten, Tagebucheinträgen wie auch Traumsequenzen daherkommt. Man wird sich anfangs etwas durchbeißen müssen, bevor man zu den stärkeren Passagen kommt: Im fernen Los Angeles wird die Ich-Erzählerin von den deutschen Zusammenhängen wieder eingeholt. Zunächst sind es nur die Star-Treck-Parallelen, in denen Kapitän Piccard und die anderen darum kämpfen, eine "feindliche Übernahme" durch die Romulaner zu verhindern. "Am Rande der Welt" stürzt die Hauptperson dann aber in eine tiefe Krise, als ihre IM-Akte Thema der öffentlichen Diskussion wird. Diese findet ihren Höhepunkt in einer whiskygeschwängerten Nacht, in der die Erzählerin ihr Inneres nach außen kehrt und all die Lieder zu singen beginnt, die ihr Leben begleitet haben. Neben die Enttäuschung über die DDR-Mitbürger, die den Traum vom Sozialismus 1989 nicht mehr weiterträumen wollten (bzw. in der Masse wohl nie geträumt haben), tritt so eine nahezu läuternde USA-Erfahrung. Platte Kapitalismuskritik steht neben einer mit der Szene um den Besuch der "First African Methodist Episcopal Church" angedeuteten religiösen Erlösungshoffnung. Die amerikanische Freundin aus den Reihen des Personals des Getty-Centers verschwimmt mit den Konturen des Engels der Geschichte, den Walter Benjamin beigesteuert hat. Gerade in seinem Facettenreichtum ebenso verwirrend wie lesenswert!