Susanne Kaul / Jean-Pierre Palmier: Stanley Kubrick. Einführung in seine Filme und Filmästhetik (= directed by), München: Wilhelm Fink 2010, 146 S., ISBN 978-3-7705-4752-4, EUR 16,90
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Die Literatur über Stanley Kubrick füllt ganze Bibliotheken. Umso couragierter sind die beiden Bielefelder Literaturwissenschaftler Susanne Kaul und Jean-Pierre Palmier, wenn sie mit dem ersten Band der vom Fink-Verlag herausgegebenen Reihe directed by eine 146 Seiten schmale Navigation durch das viel diskutierte Werk des Regisseurs anbieten. Der kurzen Forschungsdiskussion in der Einleitung folgen eine pointierte Einführung in Kubricks spezifische Filmästhetik, eine Darstellung seiner drei prominentesten unrealisierten Projekte sowie ein knapper Überblick des Frühwerks bis zu Dr. Strangelove, or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb (1964). Im Zentrum stehen die sechs 'reifen' Kubrick-Filme von 2001: A Space Odyssey (1968) bis Eyes Wide Shut (1999), die in eigenen Kapiteln vorgestellt werden. Darin erörtern die Verfasser jeweils Handlung und literarische Vorlage sowie Produktion und Rezeption, um dann mit Analysen des Inhalts, des "Audiovisuellen" und einer ausgewählten Sequenz aufzuwarten.
Ebenso wie die Strukturierung des Buches ist der Text verständlich und systematisch. Die Autoren fassen Resultate der aktuellen Forschung bisweilen erstaunlich klar zusammen und denken vorliegende Interpretationen hin und wieder einen kleinen Schritt weiter (z.B. 29, 109). Insofern ist die Einführung gelungen. Dem stehen sporadisch sprachlich unangemessene Undifferenziertheiten entgegen wie die nuancenlose Verwendung des Prädikats "komisch" für Filme wie Barry Lyndon und Full Metal Jacket (18, 78, 103). Außerdem hätten Kubricks frühe Filme und auch seine Fotografien eine ausführlichere Würdigung verdient als kurze Zusammenfassungen, wie man sie in den Anhängen einiger Kubrick-Monografien vorfindet. Immerhin schenkt man dem Frühwerk seit etwa einer Dekade zu Recht größere Aufmerksamkeit.
Die strukturelle und sprachliche Klarheit der Einführung besitzt eine problematische Kehrseite: Kaul und Palmier visieren verständlicherweise ein eigenes Interpretationsprofil an. Sie werden allerdings zu Opfern ihres eigenen Ehrgeizes, indem sie sich zu fragwürdigen Vereinfachungen hinreißen lassen. So legen die beiden ein selbstbewusstes Veto gegen jene Interpreten ein, die von der Hermetik bzw. einer brüchigen Narration der 'reifen' Kubrick-Filme ab 2001 ausgehen. Sie kontern mit dem Konzept des "audiovisuellen Erzählens", demzufolge inhaltliche Leerstellen in Kubricks Filmen durch medienspezifische audiovisuelle Gestaltungsstrategien entambiguisiert werden: "Die Filme ab 2001 sind nicht weniger eindeutig und stringent erzählt als Kubricks frühe Filme - nur sind sie eben spezifisch filmisch erzählt, das heißt auf Basis ihrer audiovisuellen Gestaltung" (10). Für das Ende von 2001 bedeute dies beispielsweise: "Das Schuss-Gegenschuss-Verfahren suggeriert, dass Bowman eine ältere Version von sich selbst sieht, was logisch unmöglich ist. Die Montage vermittelt hier aber gerade, dass Bowman eine transhumane Erfahrung macht, in der menschliches Zeitempfinden aufgehoben ist" (54). Ob die Konvergenz dieser Deutung mit Arthur C. Clarkes signifikant vom Film abweichender Romanfassung ein Zufall ist? In der Tat messen Kaul und Palmier den Literaturvorlagen einen hohen Stellenwert zu und deuten Kubricks Filme als "Reproduktion eines Leseeindrucks", ja sogar als "audiovisuelle Wiederholung des Verliebtseins [...], das von der Lektüre ausgeht" (11). Da Kubrick seine Vorlagen oft gegen den Strich zu bürsten pflegte, auch um einen möglichst eigenständigen Film zu schaffen, ist diese stark literaturabhängige Sichtweise angreifbar.
Angesichts der Nachdrücklichkeit, mit der Kaul und Palmier Kubricks Filme als eindeutige audiovisuelle Erzählungen präsentieren, avanciert das Konzept der Audiovisualität zum eigentlichen Protagonisten ihrer Einführung. Doch gerade dieser Kern ihrer Argumentation ist noch unausgereift, wie ein jüngerer Aufsatz Palmiers beweist: "Film erzählt immer audiovisuell, seine Handlung ist immer audiovisuell vermittelt. [...] Unter 'audiovisueller' Narration verstehe ich daher nun nicht eine Audiovisualität, die wesentlich referenziell-illustrativ wirkt, sondern eine solche, die primär stilistisch, atmosphärisch, sinnlich orientiert erzählt und sich nur sekundär handlungslogisch orientiert." [1] Im Kubrick-Bändlein heißt es wiederum: "Bis hierhin [Dr. Strangelove] sind Kubricks Filme wesentlich konventionell erzählt, das heißt, sie erzählen Geschichten, die nicht audiovisuell geprägt, sondern leicht von ihrer medialen Darstellungsform abstrahierbar sind" (10). Abgesehen von tautologischen Formulierungen und widersprüchlichen Definitionen droht hier eine Verabsolutierung subjektiver Wahrnehmungen. Und wie will das Verfasserduo zum Beispiel mit der collageartigen, dezidiert narrationszersetzenden 'Audiovisualität' zahlreicher Godard- oder Essayfilme umgehen?
Kaul und Palmier gestehen Kubricks Musikeinsatz eine erfreulich große Rolle zu, doch auch hiermit wollen sie lediglich ihre These narrativer Eindeutigkeit zementieren. Stephan Sperls umfangreiche musikwissenschaftliche Untersuchung der Kubrick-Filme dient ihnen als Hauptreferenzpunkt. [2] Da Sperl die Frage der Vieldeutigkeit im Œuvre des Regisseurs gar nicht erst problematisiert, sondern ohne genauere Untersuchung der 'Visualität' Funktionen und Bedeutungen der Musik zum Teil begründungslos festlegt, ist er ein fragwürdiger Gewährsmann. Man könnte nämlich aus sehr guten Gründen mit Michel Chion ein eher collageartiges Verhältnis zwischen Bildern und Musik annehmen, durch das eine vielschichtig-oszillierende Semantik evoziert, mitnichten aber fixiert wird. [3]
Im Vergleich zur Musik behandeln Kaul und Palmier die visuellen Gestaltungsstrategien Kubricks erstaunlich stiefmütterlich, obwohl er gerade den Bildern den höchsten Stellenwert in seinen Filmen eingeräumt hat. [4] Auch dazu lohnt sich ein Blick in einen aktuellen Palmier-Text: "In technischer Hinsicht ist der Ton für die Illusionsbildung wesentlich wichtiger als das Bild. [...] Bildlichkeit ist so wenig filmspezifisch wie Verbalität [...] und vom transmedialen Merkmal der Visualität zu unterscheiden." [5] Abgesehen von der mangelnden begrifflichen Unterscheidung zwischen Bildlichkeit und Visualität wird in Äußerungen wie diesen eine Tendenz zur einseitigen Aufwertung des Auditiven auf Kosten des Visuellen ersichtlich, die unterschwellig auch das Kubrick-Buch prägt. Ob die Verfasser damit ihrem hohen Anspruch auf eine gegenüber bisherigen Publikationen 'medienadäquatere' Methodik gerecht werden? Dazu müssen sie vertiefende Analysen - insbesondere zur filmischen Bildgestaltung und Montage - nachreichen, um zahlreiche Behauptungen durch differenzierte Argumentationen zu fundieren. In ihrem Einführungsband wirkt ihr Konzept des "audiovisuellen Erzählens" jedenfalls eher wie eine Beschwörungsformel, um anderen Autoren den eigenen schwarzen Peter mangelnder Medienspezifik zuzuschieben.
Aufschlussreich sind die unausgesprochenen Prämissen der Argumentation Kauls und Palmiers: Der Vereindeutigungsdrang ihrer Interpretationen ist letztlich tief in den Prinzipien des klassischen Erzählkinos verwurzelt. Das Autorenduo propagiert folglich nicht mehr und nicht weniger als eine re-konventionalisierende Lektüre der Kubrick-Filme, die als bedenklich einzustufen ist. Die Brisanz von Kubricks reifen Werken, die über Sinnstiftung und damit auch über die Grenzen eindeutiger Narrationen reflektieren, versuchen sie deshalb konsequent zu exorzieren. Ihre Verabsolutierung des "audiovisuellen Erzählens" überrascht umso mehr, als insbesondere Tom Gunning mit seinem Konzept des "cinema of attractions" und in seinem Gefolge Richard Maltby die Rolle der Narration bereits vor Jahren überzeugend relativiert haben. [6]
Kontraproduktiv ist gleichfalls, dass sie den in der Kubrick-Forschung zentral verankerten Komplex assoziativer motivischer Verknüpfungen als "assoziative Analyse" (13) verwerfen. Auf diese Weise bereicherte Kubrick seine Filme nämlich einerseits um vielschichtige Konnotationen, die nicht narrativ, sondern visuell-verdichtend und der Sehnsucht nach Eindeutigkeit zuwiderlaufend zur enigmatischen Wirkung beitragen. Derartige 'Motivgewebe' können sich andererseits im gleichen Zuge als hilfreich erweisen, um narrative Lücken zu füllen - diese Gegenläufigkeit ist kein Widerspruch, da Kubrick in seinem Œuvre immer wieder auf Paradoxien reflektiert hat. Mit ihrem Verdikt schieben Kaul und Palmier somit ein medienspezifisches und für die 'Audiovisualität' konstitutives Charakteristikum eilfertig beiseite und beschneiden ihre Möglichkeiten zur Erschließung größerer Zusammenhänge. Unglücklich ist deshalb das abrupte Ende unmittelbar nach dem Eyes Wide Shut-Kapitel, weil die Verfasser so die Gelegenheit verpassen, Kubrick-Neulinge auf Forschungsdesiderate aufmerksam zu machen.
Wie man den vorgetragenen Einwänden entnehmen kann, hinterlässt die Einführung von Kaul und Palmier Zwiespalt. Ihre Fähigkeit zur Systematisierung und pointierenden Verdichtung wird bedauerlicherweise begleitet von einem stark vereinfachenden, nur bedingt medienspezifischen Umgang mit dem Gegenstand sowie - damit korrespondierend - von einer bisweilen einseitig-verzerrenden Darstellung bisheriger Forschungspositionen. Ein größerer Umfang wäre sinnvoll gewesen, auch um eine zum Teil weniger apodiktische und vor allem selbstkritischere Argumentation zu entwickeln. Bedenklich und den Autoren vielleicht nicht ganz bewusst ist das implizit postulierte Primat einer literaturwissenschaftlichen Deutungshoheit über das Filmmedium. Für Kubrick-Einsteiger empfiehlt es sich daher, die Lektüre dieser Einführung durch ein kritisches Querlesen älterer Standardtexte, etwa von Peter W. Jansen, Thomas Allen Nelson, Michel Ciment oder Rainer Rother, zu flankieren [7] - sonst laufen sie Gefahr, sich den Blick auf die Vielschichtigkeit dieser Filme vorschnell durch die Eindeutigkeitsfixierung von Susanne Kauls und Jean-Pierre Palmiers Konzept der Audiovisualität einengen zu lassen.
Anmerkungen:
[1] Jean-Pierre Palmier: Gefühle erzählen. Narrative Unentscheidbarkeit und audiovisuelle Narration in Christoffer Boes "Reconstruction", in: Erzählen im Film. Unzuverlässigkeit. Audiovisualität. Musik, hg. von Susanne Kaul / Jean-Pierre Palmier / Timo Skrandies, Bielefeld 2009, 141-157, hier 146 [Hervorhebungen hinzugefügt].
[2] Vgl. Stephan Sperl: Die Semantisierung der Musik im filmischen Werk Stanley Kubricks, Diss. phil. Marburg 2004, Würzburg 2006.
[3] Vgl. u.a. Michel Chion: Kubrick's Cinema Odyssey, London 2001, v.a. 70ff. und 112-119.
[4] Vgl. Kubrick, zit. in: Christoph Hummel u.a.: Stanley Kubrick, hg. von Peter W. Jansen / Wolfram Schütte / Reihe Film 18, München / Wien 1984, 232f.
[5] Jean-Pierre Palmier: Die Narrativität der Medien. Transmediale Erzähltheorie und ihre Bedeutung für Literatur- und Filmwissenschaft, in: Literaturwissenschaft - interdisziplinär, hg. von Lothar van Laak / Katja Malsch, Heidelberg 2010, 71-87, hier 84f.
[6] Vgl. Tom Gunning: The Cinema of Attractions. Early Film, its Spectator and the Avant-Garde, in: Early Cinema: Space, Frame, Narrative, hg. von Thomas Elsaesser, London 1990, 56-62; Richard Maltby: Hollywood Cinema, 2. Auflage, Malden (Massachusetts) u.a, 2003, v.a. 452ff.
[7] Vgl. Hummel u.a. 1984 (wie Anm. 4); Thomas Allen Nelson: Kubrick: Inside a Film Artist's Maze, neue und erw. Ausgabe, Bloomington, Indianapolis 2000; Michel Ciment: Kubrick: The Definitive Edition, New York 2001; Rainer Rother: Das Kunstwerk als Konstruktionsaufgabe: Zur Modernität der Filme Stanley Kubricks, in: Merkur 43 (5/1989), 384-396.
Ralf Michael Fischer