Andrea Löw / Markus Roth: Juden in Krakau unter deutscher Besatzung 1939-1945, Göttingen: Wallstein 2011, 248 S., ISBN 978-3-8353-0869-5, EUR 19,90
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Roman Polanski, Mordechai Gebirtig, Halina Nelken und Oskar Schindler. Bekannte Namen, die auf die eine oder andere Weise mit dem jüdischen Krakau während der nationalsozialistischen Besatzung verbunden sind. Wer in der heutigen Stadt das ehemalige jüdische Viertel Kazimierz betritt, kann von der deutschen Verfolgung und dem Massenmord nichts mehr sehen. Das liegt zum einen daran, dass der Generalgouverneur Hans Frank die Juden auf das andere Weichselufer nach Podgórze umsiedelte und dort das Krakauer Ghetto entstand. Es liegt auch daran, dass Kazimierz zwar das traditionelle jüdische Viertel ist, aber heute vor allem eine folkloristische Inszenierung für Touristen bietet. "Authentisch" - um ein beliebtes Modewort zu gebrauchen -, ist hier kaum noch etwas, obwohl sich viele Besucher gerade danach sehnen.
Umso überraschender ist es, dass trotz scheinbar größerer Nachfrage bislang keine substantielle Gesamtdarstellung zur Geschichte der Krakauer Juden unter deutscher Herrschaft vorliegt, weder auf Polnisch noch etwa auf Deutsch oder Englisch, und einzelne - durchaus überzeugende - Untersuchungen polnischer Wissenschaftler lediglich Teilaspekte abdecken. Die Erforschung gerade der Ghettos im Nationalsozialismus ist in weiten Teilen noch in ihren Anfängen und deckt momentan fast ausschließlich die großen "Judenviertel" wie Warschau, Litzmannstadt, Minsk oder Wilna ab, zu denen immer wieder Studien erscheinen, wohingegen selbst mittelgroße Ghettos wie Krakau, in dem über 15.000 Juden leben mussten, weitgehend unberücksichtigt bleiben.
Mit Andrea Löw und Markus Roth haben sich zwei ausgewiesene Spezialisten der Judenverfolgung in Polen dieses Themas angenommen. Explizit schreiben sie allerdings keine wissenschaftliche Fachstudie, sondern ein Sachbuch für einen breiteren Leserkreis. Gleichwohl bedeutet das nicht, dass das vorliegende Buch nicht auch für Spezialisten interessant wäre. Ganz im Gegenteil ist seine Eindringtiefe durchaus beeindruckend, und selbstverständlich sind sämtliche Referenzen akribisch belegt. So werden dem Leser einerseits zahlreiche Zitate der Opfer geboten - die Täterseite bleibt weitgehend außen vor -, und andererseits deren Fundorte genau benannt. Diese Quellen beleuchten das individuelle Erleben auf einzigartige Weise. Zugleich erlauben die Dokumente einen Einblick in ganze Lebensschicksale, vor allem, weil manche Berichte immer wieder zu anderen Aspekten und zu späteren Jahren herangezogen werden. Dass Löw und Roth dabei gelegentlich auch Übersetzungen ins Deutsche vornehmen, ist als zusätzlicher Transfer zu würdigen. Und darum geht es letztlich auch: um die Bündelung der vorhandenen, oft polnischen Literatur und der veröffentlichten Quellen, die mit einigen im Warschauer Jüdischen Historischen Institut vorhandenen Überlebendenberichten ergänzt werden.
Dabei entsteht ein Panorama erzählter Geschichte, bei dem zahllose Details und Fakten zwar eingearbeitet sind, aber nie den Lesefluss stören. Die Rekonstruktion der Bedingungen in einem Ghetto, das eine eigene Lebenswelt unter extremen Bedingungen darstellte, überzeugt auf ganzer Linie, genau wie die Schilderung des Schicksals der Lagerinsassen und Flüchtlinge nach der Auflösung des "jüdischen Wohnbezirks" - etwa 4.000 Krakauer Juden überlebten den Holocaust. Die vorwiegend chronologische Darstellung erklärt immer wieder in separaten Einschüben Aspekte oder Persönlichkeiten, die mit der Verfolgung zu tun hatten, etwa Hans Frank oder die "Aktion Reinhardt". Die Erläuterungen sind ebenso wie die Geschichte der Verfolgung in Krakau stets präzise, so dass selbst Experten beruhigt zugreifen, mit großem Nutzen lesen und später zitieren können. Und auch der interessierte Laie wird das Buch mit Gewinn studieren und aus der kompetenten Schilderung viel Neues erfahren. Einzig die Tatsache, dass Löw und Roth mit ihrer Schilderung unmittelbar 1939 einsteigen und die überaus reichhaltige Vorgeschichte der Krakauer Juden ausblenden, mag leicht irritieren - aber diese Entscheidung ist schon allein aus Platzgründen durchaus nachvollziehbar.
Dafür bietet das Buch eine Einordnung Krakauer Spezifika in allgemeine Abläufe und Tendenzen des Holocaust, denen die ursprünglich 60.000 Juden der Stadt ausgesetzt waren. Dass letztlich nur gut 15.000 von ihnen im Ghetto in Podgórze eingesperrt wurden, lag beispielsweise daran, dass Hans Frank schon 1940, vor der Errichtung des "Wohnviertels", Juden aus der Stadt entfernen ließ. Gleichzeitig legte er Wert darauf, dass die jüdischen Organisationen, die im gesamten Generalgouvernement operierten (wie etwa die "Jüdische Soziale Selbsthilfe"), weiterhin dort logierten - und deshalb auch Platz im nur 300 bis 320 Häuser zählenden Podgórze belegten. Die Aktivitäten dieser Institutionen, die ebenfalls am Beispiel Krakau geschildert werden, bieten so zugleich eine Art Sozialgeschichte des Ghettos.
Dazu passen die beeindruckenden statistischen Schaubilder, die in einer eigenen Abteilung des "Judenrats" entstanden, jener von den Deutschen eingesetzten Selbstverwaltung, die ihnen einerseits einen effizienten Zugriff auf das Ghetto bieten sollte, andererseits aber auch die tägliche Administration des Mangels auf die Schultern der Opfer abwälzte. Die Diagramme sind ebenso wie rund 70 Fotos Teil der nur als üppig zu bezeichnenden Illustrationen des Buches, die in einem separaten Anhang extra nachgewiesen werden. Der Leser wird sich zudem über ein Glossar freuen, eine Chronologie sowie ein Personenverzeichnis. Wenn an diesem uneingeschränkt zu lobenden Werk überhaupt eine negative Kritik geübt werden muss, dann höchstens an den manchmal etwas zu suggestiv ausgewählten Zitaten aus den Quellen der Opfer, bei denen nicht immer deutlich wird, wo die Grenzen (und Möglichkeiten) einer solchen subjektiven Beschreibung liegen - also welche Teile davon Tatsachen beschreiben und welche nur Deutungen.
Aber letztlich ist dies kaum mehr als ein kleiner Schönheitsfehler eines ausgezeichneten Buches. Wegweisende Interpretationen zum Holocaust sollte man nicht erwarten - aber das ist auch nicht der Anspruch der Autoren. Sie wollten eine Geschichte der Juden in Krakau während des Zweiten Weltkriegs schreiben. Und genau das haben sie in hervorragender Weise getan.
Stephan Lehnstaedt