Ulrike Egelhaaf-Gaiser / Dennis Pausch / Meike Rühl (Hgg.): Kultur der Antike. Transdisziplinäres Arbeiten in den Altertumswissenschaften, Berlin: Verlag Antike 2011, 456 S., ISBN 978-3-938032-41-1, EUR 54,90
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Neue kulturwissenschaftliche Ansätze überschreiten allenthalben die Fächergrenzen und sorgen auch bei den aufgrund der gemeinsamen Quellenbasis ohnehin seit jeher kooperierenden Altertumswissenschaften dafür, dass die Transgression überlieferter oder imaginierter Zuständigkeiten der beteiligten Disziplinen zu einer Selbstverständlichkeit wird, die mit Hilfe neuer Perspektiven noch lange nicht ausgeschöpften Erkenntnisgewinn verheißt. Der scheinbare Widerspruch zwischen zunehmender Spezialisierung und ganzheitlicher Einsicht in die Kultur der Antike erfordert eine das Spannungsfeld auslotende und zugleich sich der Gemeinsamkeiten und Unterschiede bewusste Integrationsleistung. In der Außensicht auf derartige Bemühungen um ein ganzheitliches Verständnis der Antike mögen auf den ersten Blick vielleicht die klaren Abgrenzungen der Fächer und vertrauter Methoden verschwimmen. Damit verbundenen Schwierigkeiten ist jedoch durch sorgsames methodisches Vorgehen zu begegnen, das sich mittels Überschreitung der Grenzen einzelner Disziplinen seiner Leistungsfähigkeit im Interesse bestimmter Erkenntnisziele bewusst ist.
Hieraus folgt die Einsicht, dass man modernen kulturwissenschaftlichen Fragestellungen im Bereich der Antike nur unter konsequenter Vernetzung der beteiligten altertumswissenschaftlichen Disziplinen gerecht werden kann. Andererseits fehlt es an einem Leitfaden, der diese Art fachübergreifenden Forschens in den Altertumswissenschaften methodenbewusst und praxisnah exemplarisch behandelt. Aus dieser Erkenntnis ist ein Studienbuch entstanden, das Interessenten aus der Perspektive der vier Altertumswissenschaften Alte Geschichte, Gräzistik, Latinistik und Klassische Archäologie unter Einbeziehung weiterer einschlägiger Grund- und Nachbardisziplinen fachüberschreitendes Arbeiten an geeigneten Beispielen praktisch vorführt und so Verständnis für die Leistungskraft dieses Ansatzes erschließt. Damit wird Erfordernissen Rechnung getragen, die sich aus Erfahrungen der beteiligten Fächer mit kulturwissenschaftlichen Fragestellungen in der universitären Lehre ergeben. Die Beiträge sollen also "die Ausbildung eines fachspezifischen wie transdisziplinären Methodenbewusstseins und die Entwicklung eigener Fragestellungen und problemerschließender Arbeitstechniken im Studium unterstützen" (11).
Die wünschenswerte Transdisziplinarität der Altertumswissenschaften spiegelt sich auch in der Anlage dieses Buches wider und verleiht ihm eine überzeugende Geschlossenheit. Vorangestellt ist ein Aufsatz über "Interdisziplinarität und Klassische Altertumswissenschaften. Begriff und geschichtliche Entwicklung" (M. Landfester), der die Verwissenschaftlichung und Profilierung der Einzeldisziplinen im Wechselspiel mit enzyklopädischen Integrationsversuchen vornehmlich im 18. und 19. Jahrhundert nachzeichnet, zugleich aber im historischen Überblick wie in der Systematik moderner Entwicklungen das große Potential an Perspektiven entwickelt, das für fächerübergreifendes Arbeiten gerade angesichts notwendiger Spezialisierung in der Gegenwart besteht.
Die anschließenden 16 Beiträge sind den Begriffen "darstellen", "repräsentieren", "fixieren" und "verweisen" zugeordnet und beziehen sich damit auf wichtige Funktionen der in ihnen behandelten Quellen und Deutungsaspekte, ohne dass bestimmte Fächer und ihre Fragestellungen, Quellengattungen oder Theorien den Leser gleich in eine festgelegte Richtung lenken. Durch die vier Leitbegriffe ergeben sich vier Kapitel, denen je vier Beiträge entsprechen, in die anhand des Leitbegriffs jeweils kurz eingeführt wird. So entsteht mit Hilfe der in diesen Einleitungen angesprochenen fachübergreifenden Gemeinsamkeiten und fachspezifischen Unterschiede ein Rahmen für bestimmte Fragestellungen, anhand derer der Leser weiterdenken und weiterarbeiten kann, indem er sich der Lektüre der den Leitbegriffen zugewiesenen Fallbeispiele widmet. Hilfreich für die Vertiefung sind die jedem Aufsatz beigefügten Literaturverzeichnisse, aus denen Wichtiges durch Kommentare hervorgehoben wird.
Der erste Abschnitt gilt der Darstellung von Personen und Personengruppen in verschiedenen Medien (Literatur/Kunst) wie dem Bild des Kriegers in Archaik und Klassik, dessen mentalitätsgeschichtlicher Wandel an archäologischen Zeugnissen und in der Tragödie aufgewiesen wird (M. Recke), in unterschiedlichen Textgattungen wie dem Verhältnis von Männlichkeit und Weiblichkeit in römischen Grabinschriften und in erzählenden Quellen (Ch. Ronning) oder aber in fächerbedingt verschiedenartigen, doch ein ganzheitliches Bild eröffnenden Rezeptionsformen einer bestimmten Quelle, etwa im Spannungsfeld von Philologie und Theologie (Th. J. Bauer) oder Philologie und Alter Geschichte (D. Pausch).
Die nächste Gruppe von Aufsätzen führt an dem Quellenwert des Geldes (P. F. Mittag), dem Heiligtum und Orakel der Fortuna Primigenia in Praeneste (Ch. Frateantonio), dem Mithraskult (A. Klöckner) und dem Kolosseum im Licht dreier Epigramme Martials (H. Krasser) in die Kategorie des "Repräsentierens" und der damit einhergehenden Leistungen und Grenzen ein.
Das "Fixieren" und mit diesem Vorgang verbundene Medien illustrieren Ausführungen über die Leistungen der Papyrologie am Beispiel der constitutio Antoniniana (P. Kuhlmann), zur Deutung archäologischer Überreste kultischer Handlungen (A. Schäfer) und zum Zwölftafelgesetz als Erinnerungsort (V. Binder). Einen für die verfolgten Anliegen besonders repräsentativen Aufsatz stellen U. Egelhaaf-Gaisers Ausführungen über die Deutung von Passagen des Briefes der Penelope an den herbeigesehnten Gatten Odysseus (Ovid, epistulae Heroidum 1) dar. Die Autorin erläutert an diesem Beispiel den Zusammenhang von Erinnerung und Medium und illustriert von diesem Gedanken aus die literarisch anspielungsreiche Vervielfältigung von Deutungen, die neue Einsichten in Ovids Auffassungen über die Geschichtsreflexion augusteischer Zeit vermittelt.
Der letzte Abschnitt spricht mit "Verweisen" Zuordnungen an, die die Funktion von Sprache in Aristophanes' Komödie "Die Wolken" betreffen (M. Baumann), die gesellschaftliche und kulturelle Konnotation von Nahrungsmitteln (W. Tietz), die Problematik von Intertextualität und Intermedialität am Beispiel des Skyphos von Ischia (P. von Möllendorff) und die Kontextualisierung von Passagen der Plautus-Komödie "Curculio" durch Methoden des "New Historicism" (M. Rühl).
Dem Anliegen, Nutzern auf unterschiedlichem Kenntnisstand verschiedene Möglichkeiten des Einstiegs zu bieten, wird dieser Band als Arbeitsbuch mit unterschiedlich voraussetzungsreichen und thematisch breit gestreuten Beiträgen in vollem Umfang gerecht. Das auf exemplarische Herangehensweise angelegte Buch gewinnt seine Einheitlichkeit ebenso aus der Zuordnung der Aufsätze zu vier Leitgedanken wie aus dem jedem Beitrag zugrunde liegenden hohen Methodenbewusstsein: Es werden methodische Zugänge und Fragestellungen in Richtung der Transdisziplinarität entwickelt und dargestellt, die sich nachvollziehbar in bestimmten Ergebnissen niederschlagen. Methoden werden zugleich auf ihre Leistungsfähigkeit und Resultate auf ihre Überzeugungskraft geprüft. Dies wird dem Leser an diversen Beispielen in aufeinanderfolgenden Schritten einsichtig vermittelt. Insofern ist hier der mögliche Gegensatz zwischen geschlossener Konzeption und breitem Themenspektrum ohne suggestive Lenkung durch einengende Systematik heuristisch fruchtbar umgesetzt.
Das Desiderat einer Einführung in neue kulturwissenschaftliche Ansätze fachübergreifenden Arbeitens im Bereich der Antike hat zur Publikation eines Buches geführt, das in keineswegs selbstverständlicher Geschlossenheit diese Thematik für einen interessierten Nutzerkreis anschaulich behandelt. Hierbei ist primär an Studenten neuer (und herkömmlicher) altertumswissenschaftlicher Studiengänge, nicht so sehr vielleicht Studienanfänger, zu denken, die das einschlägige Methodenrepertoire und dessen Leistungsfähigkeit kennenlernen und gedanklich ausprobieren wollen. Zu diesem Zweck bietet der Band Neugier weckende und vom Potential dieser Zugriffsweisen überzeugende Beiträge. Die Mehrzahl - neun - dieser allesamt anregenden, teilweise fesselnden Aufsätze sind von Vertretern der Klassischen Philologie verfasst; zu ihnen zählt auch die Herausgeberschaft. Diese Disziplin übernimmt damit, wie es scheint, eine Vorreiter- und zugleich Integrationsrolle unter den Altertumswissenschaften, was ihr neue Attraktivität verleiht. Das schöne Buch sollte daher Jedem, der tiefer in aktuelle Fragen der Altertumswissenschaften eindringen möchte, ein willkommener Begleiter sein.
Ulrich Lambrecht