Kent Emery / Russell L. Friedman / Andreas Speer (Hgg.): Philosophy and Theology in the Long Middle Ages. A Tribute to Stephen F. Brown (= Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters; Vol. 105), Leiden / Boston: Brill 2011, XII + 1005 S., ISBN 978-9-0041-6942-5, EUR 239,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Gordon Wilson (ed.): A Companion to Henry of Ghent, Leiden / Boston: Brill 2011
Laurent Cesalli / Ruedi Imbach / Alain de Libera u.a. (Hgg.): Die Philosophie des Mittelalters. Band 3. 12. Jahrhundert, Basel: Schwabe 2021
Irven M. Resnick (ed.): A Companion to Albert the Great. Theology, Philosophy, and the Sciences, Leiden / Boston: Brill 2013
Andreas Speer / Thomas Jeschke (Hgg.): Schüler und Meister, Berlin: De Gruyter 2016
Russell L. Friedman: Intellectual Traditions at the Medieval University. The Use of Philosophical Psychology in Trinitarian Theology among the Franciscans and Dominicans, 1250-1350, Leiden / Boston: Brill 2012
Andreas Speer / Lars Reuke (Hgg.): Die Bibliothek - The Library - La Bibliothèque. Denkräume und Wissensordnungen, Berlin: De Gruyter 2020
Bei einem derart voluminösen Sammelband, dessen Beiträge zumeist von in ihrem jeweiligen Gebiet herausragenden Koryphäen stammen, ist es schwer oder gar unmöglich in einer Besprechung angemessene Akzente zu setzen. Daher kann einzig versucht werden, einen Über- und Einblick in jene Ordnungsschemata zu gewähren, die der Band sowohl der materia prima, das heißt dem chaotischen historischen Material, also all jenem, was in irgendeiner Hinsicht für philosophie- und theologiegeschichtliche Forschung relevant ist, als auch der materia secunda, also all jenem, was von jeher schon über die Philosophie und Theologie des Mittelalters geschrieben wurde, angedeihen läßt. Es ist evident, dass eine klare und distinkte Unterscheidung beider Bereiche, also des reinen Materials einerseits wie andererseits dessen, was diesem Material bereits eine erste Formung verleiht, nicht getroffen werden kann. Jede historische Forschung greift affirmativ oder negativ auf Ordnungsschemata zurück, die ihr voraus liegen.
Da es sich in dem hier vorliegenden Band um eine Festschrift handelt, erfährt das Material eine erste Einschränkung durch die Interessen des Geehrten, denen die meisten Beiträge zumeist ihren Tribut zollen. Die Einführung der Herausgeber gewährt einen guten Einblick in eben jene Interessen Stephen Browns, der 1964 am Institut Supérieur de Philosophie der katholischen Universität in Löwen promoviert wurde, um durch seine Forschung und Lehre in den darauffolgenden Jahrzehnten das Studium der mittelalterlichen Philosophie in Nordamerika nachhaltig zu prägen. Eine zweite Einschränkung betrifft selbstverständlich die Beitragenden, ihre Forschungsschwerpunkte und ihre wissenschaftliche oder persönliche Verbindung zu Stephen Brown, wovon ein Teil ebenfalls in der Einführung des Bandes deutlich wird.
Die Kennzeichen von Stephen Browns Forschungen fassen die Herausgeber treffend zusammen: "[...] his recourse to the manuscripts, his careful reading of terms and arguments, his engagement with the scholarly views of other researchers. In sum, this example shows well the reasons why over the course of more than four decades Stephen F. Brown's scholarly work has been a mainstay of the study of fourteenth-century philosophy." (14) Diese Charakteristika kennzeichnen auch die meisten der 35 Beiträge, die in fünf Abschnitte untergliedert wurden. Der erste Abschnitt dreht sich um "Metaphysics & Natural Philosophy", wobei das Schwergewicht auf der aristotelischen Tradition dieser beiden philosophischen Spezialdisziplinen liegt und die platonische Tradition der Metaphysik als eine Sonderentwicklung der mittelalterlichen Metaphysik zwar erwähnt, aber nicht weiter behandelt wird. Ohne den letzten Beitrag von André Goddu über "Medieval Natural Philosophy and Modern Science - Continuity and Revolution" könnten die verbleibenden sieben Beiträge auch unter die Überschrift "Metaphysik im Mittelalter" gruppiert werden.
Die zweite große dichotomische Untergliederung befasst sich mit "Epistemology & Ethics". Die Verteilung der zehn Beiträge ist in etwa ausgewogen, wobei Epistemologie hier ebensowohl sprachphilosophische Erörterungen wie eine erneute Untersuchung der Lehre von der göttlichen Erleuchtung umfasst. Mit dieser Lehre wird ein Hauptelement des sogenannten Augustinismus aufgegriffen. Neben den drei großen anderen Ordnungsschemata, denen die mittelalterliche Philosophie unterworfen wurde, dem Aristotelismus, dem Platonismus und dem Averroismus beziehungsweise dem heterodoxen Aristotelismus, wurde diese Kategorisierung in den letzten Jahrzehnten von der Forschung immer stärker marginalisiert.
Die Dichotomie des dritten Abschnitts ist eine, die bereits dem mittelalterlichen Denken selbst entspringt, wenngleich die Grenze nicht immer in der von manchen Menschen gewünschten Schärfe zu ziehen ist. Der Abschnitt "Philosophy & Theology" behandelt sowohl die Schwierigkeit der Trennung beider Bereiche als auch die Konstitution der Theologie als eigener Wissenschaft, dabei wird deutlich, dass damals wie heute weder eine Philosophie, die nicht tief in die Theologie hineinreichte, noch eine Theologie, die ohne philosophische Belange auskäme, konzipiert werden können.
Im vierten Abschnitt wird die dichotomische Einteilung der vorhergehenden Abschnitte verlassen, hier versammeln sich "Theological Questions", die in den vorhergehenden Abschnitten keine sinnvolle Zuordnung erfahren hätten. Der letzte Abschnitt "Text & Context" stellt dagegen keine Dichotomie dar, sondern eher eine Erweiterung des Blickwinkels oder die zwei Seiten einer Medaille, insofern in den hier versammelten Beiträgen keine Spezialprobleme verhandelt werden, sondern die behandelten Autoren in einem umfassenderen Kontext verortet werden.
Betrachtet man nun die primären Zwecke des Bandes, nämlich sowohl die Anerkennung der Forschungsleistungen Stephen Browns wie die Huldigung seiner Person, so werden diese durch Form, Ordnung, Inhalt und Umfang des Bandes gewisslich mehr als erfüllt. Besonders der Index codicum und die manchen Beiträgen angehängten kleineren Texteditionen tragen seinem beständigen Rekurs auf die Handschriften, der condicio sine qua non philosophiehistorischer Forschung im Mittelalter, Rechnung.
Henrik Wels