Rezension über:

Andreas Speer / Lars Reuke (Hgg.): Die Bibliothek - The Library - La Bibliothèque. Denkräume und Wissensordnungen (= Miscellanea Mediaevalia; Bd. 41), Berlin: De Gruyter 2020, XXV + 914 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-11-070039-8, EUR 210,00
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Rezension von:
Ralf Lützelschwab
Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fischer
Empfohlene Zitierweise:
Ralf Lützelschwab: Rezension von: Andreas Speer / Lars Reuke (Hgg.): Die Bibliothek - The Library - La Bibliothèque. Denkräume und Wissensordnungen, Berlin: De Gruyter 2020, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 10 [15.10.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/10/36964.html


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Andreas Speer / Lars Reuke (Hgg.): Die Bibliothek - The Library - La Bibliothèque

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Der schwergewichtige Band dokumentiert die Vorträge, die auf der 41. Kölner Mediävistentagung im Jahr 2018 gehalten worden sind. In ihnen wird der Interdependenz von ideeller und materieller Kultur innerhalb von Bibliotheken ebenso nachgespürt wie der Verflechtung von Wissensgeschichte und ihren institutionellen Rahmenbedingungen. Andreas Speer leitet überaus kompetent in die elf Sektionen des Bandes ein (I. Karolingische Bibliotheken; II. Klosterbibliotheken; III. Universitätsbibliotheken; IV. Hofbibliotheken; V. Stadtbibliotheken; VI. Privatbibliotheken; VII. Missionsbibliotheken; VIII. Bibel und Liturgie; IX. Bibliotheca mystica; X. Virtuelle Bibliotheken; XI. Fortleben der Bibliotheken). Bibliotheken waren stets mehr als ein einfaches Bücherrepositorium: Räume des Denkens, Institutionen geordneten Wissens und Orte des Medientransfers. Bibliotheken bilde(te)n, hier ist Speer unbedingt zuzustimmen, "die Grundlage von Intertextualität" (XXII) und sind als Abbilder des Urverlangens der Menschen zu verstehen, Wissen in seiner Gesamtheit erfassen und begreifen zu wollen.

Zeitlich umfassen die insgesamt 39 Beiträge das lange Jahrtausend von 500-1500, das - allen alternativen Periodisierungsversuchen zum Trotz - noch immer als "Mittelalter" bezeichnet wird. Das behandelte Themenspektrum ist denkbar breit - zu breit und zu disparat, um tatsächlich zu einer Bibliotheksgeschichte im eigentlichen Sinn zu werden. Die Bibliothek wird als Denk- und Diskursraum begriffen, der beständig Fragen generiert, nicht zuletzt diejenige nach dem Stellenwert "klassischer" Bibliotheken in der von virtuellen Welten geprägten Gegenwart. Insgesamt zeichnet die einzelnen Beiträge eine souveräne Beherrschung des Forschungsstandes und ein hohes Problembewusstsein aus. Einiges sei herausgegriffen.

Katharina Kaska präsentiert einen Vergleich paläographischer und textlicher Beziehungen am Beispiel der österreichischen Zisterzienserklöster Heiligenkreuz und Baumgartenberg und zeigt, wie sich ein solcher methodischer Zugang zur Untersuchung monastischer Netzwerke eignen kann (61-95). Harald Horst widmet sich der Bibliothek des Kreuzherrenklosters Hohenbusch, die zwar verloren ist, von der sich aber immerhin 300 Titel auf der Grundlage alter Inventarverzeichnisse rekonstruieren lassen (121-134). Analysiert werden die in der Bibliothek präsenten "Wissensräume" ausgehend von zwei Zeitschnitten, zum einen dem Jahr 1520 mit dem sichtbaren Einfluss der Devotio moderna und einer starken Präsenz von Predigtliteratur bzw. Praedicabilia, zum anderen der Zeit um 1700 mit der Hinwendung zu humanistisch geprägter Literatur und Juridica.

Andrea Colli widmet sich in seinem Beitrag der Präsenz von Sentenzenkommentaren in der dominikanischen Studienbibliothek in Bologna im 14. Jahrhundert (135-156). Die Kommentare waren Teil der sog. boni libri, die vollständige Textausgaben maßgeblicher Autoritäten enthielten (in Abgrenzung zu den scartafacia, die lediglich aus Teilabschriften solcher Kommentare, aus theologischen Quaestionen u.ä bestanden). Sie bildeten das Rückgrat der theologischen Ausbildung und waren für die täglichen Unterrichtsaktivitäten von allergrößter Bedeutung. Neben den großen Kommentatoren wie Bonaventura, Aegidius Romanus, Pierre de Tarentaise und natürlich Thomas von Aquin fanden sich darunter auch unbekanntere Namen (Robert Holcot, Richard Fishacre, William of Ware), deren schriftlicher Nachlass bis heute noch nicht adäquat aufgearbeitet worden ist. Colli demonstriert eindrucksvoll, in welchem Ausmaß Bologna auch in theologischen Dingen "avant-garde" war.

Hans-Joachim Schmidt beschäftigt sich mit der Frage nach dem Privatbesitz von Büchern in Bettelordenskonventen (157-171). Aufgrund der guten Quellenlage werden dabei aber vornehmlich die Positionen der Franziskaner und Dominikaner skizziert (man bedauert, dass den Karmelitern nur eine einzige Seite gewidmet wurde). Bei den Franziskanern war der Erwerb von Büchern seit 1242 zwar erlaubt, sie gingen jedoch ausschließlich in die Verfügung der Konvente über, d.h. Zuweisungen an einzelne Brüder waren nicht vorgesehen. Anders bei den Dominikanern: Hier stand es außer Frage, dass zu Studienzwecken nicht nur einzelne Zellen, sondern auch der Gebrauch von Büchern in diesen Zellen erlaubt war. Bei den Predigerbrüdern standen der private und der kollektive Besitz von Büchern "friktionsfrei nebeneinander, weil die Resultate des Studiums der Bücher allen in den Konventen und im Orden zugutekommen würden" (163). Privater Gebrauch war freilich stets an das Studium des einzelnen gebunden und an dieses vorausgesetzt. "Enteignungen" aufgrund erwiesener intellektueller Unbeweglichkeit kamen vor.

Gilbert Fournier nimmt sich des "Bibliotheksdossiers Sorbonne" an und geht der Frage nach, ob in Gestalt der bibliotheca communis dort tatsächlich so etwas wie eine nicht nur für Mitglieder der Sorbonne, sondern für die gesamte universitäre Öffentlichkeit zugängliche Universitätsbibliothek avant la lettre bestanden haben könnte (206-237). Analysiert werden dazu die neuen, 1321 erlassenen Bibliotheksstatuten, in denen vermerkt wurde, dass auch extranei Zugang zur Bibliothek erhalten sollten. Stand die Bibliothek also allen Universitätsangehörigen zur Verfügung? Zur Vorsicht wird gemahnt, lässt das erhaltene Ausleihregister doch solche weitreichenden Schlüsse nicht zu.

Kent Emery nutzt seinen Beitrag für eine Beschreibung der deplorablen Situation der humanities im Allgemeinen, der mediävistischen Philosophie im Besonderen in der US-amerikanischen Universitätswirklichkeit (250-302). Anhand dreier Beispiele - Dionysius der Kartäuser, Heinrich von Gent, Johannes Duns Scotus - werden dann die unterschiedlichen Arten des Verhältnisses von Denken und "bookishness", dem Verfassen theologisch-philosophischer Schriften und dem Rückgriff auf Bibliotheken illustriert. Nachgewiesen wird so etwa im Fall des Dionysius die Existenz "of some kind of extensive interlibrary loan system" (259), in das die Bibliotheken der Kartause Roermond und benachbarter Klöster ebenso wie die Kölner Universität und die Kölner Kartause mit ihren hervorragenden Buchbeständen miteinbezogen waren.

Mit der Bibliothek Karls V. von Frankreich beschäftigen sich gleich zwei Beiträge. Marcel Bubert spürt, sprachlich äußerst elaboriert, der Eigenlogik höfischer Kultur nach, in der Wissensbestände anders als in der scholastischen Welt klassifiziert wurden (305-320), während Vanina Kopp die Louvrebibliothek des späten Mittelalters als Wissensraum einer historischen Analyse unterzieht und ihre Rolle als Lieferantin politisch-dynastischer Legitimationsstrategien näher beleuchtet (321-338).

Die päpstliche Bibliothek ist Gegenstand der Ausführungen Britta Müller-Schauenburgs (339-358) und Christine Grafingers (359-375). Erstere widmet sich der Bibliothek des avignonesischen (Gegen-)Papstes Pedro de Luna, letztere spannt einen weiten Bogen von der sich in Avignon aus dem Nichts konstituierenden Bibliothek, die bald zur größten Büchersammlung der Christenheit anwuchs, bis hin zur "römischen" Bibliothek, die nach den Verwerfungen der Schismazeit ebenfalls fast von Null beginnen musste und in den beiden Päpsten Nikolaus V. und Sixtus IV. großzügige Förderer fand. Verbindungen ergeben sich zu den Beiträgen von V. Kopp und B. Müller-Schauenburg insofern, als auch Grafinger auf die Bedeutung von Ausleihregistern und ihren Aussagewert in Hinblick auf Lesegewohnheiten eingeht, im Falle Sixtus' IV. aber ergänzt um Aspekte der wissenschaftlichen Forschung von zeitgenössischen Humanisten und Gelehrten.

Der Sammelband schließt mit (noch) in die Zukunft weisenden Ausführungen Christoph Flüelers zu einem elektronischen europäischen Handschriftenportal, durch das potentiell alle erhaltenen mittelalterlichen Handschriften - Flüeler geht von 290.000 Codices aus - allen Interessierten (nicht nur den Spezialisten) einfach zugänglich gemacht werden sollen (819-833). Der Siegeszug der digital humanities seit 2003 lässt in dieser Beziehung hoffen.

Der sorgfältig lektorierte, sich zwangsläufig eklektisch präsentierende Band schüttet ein Füllhorn an neuen Erkenntnissen zur Genese und Aufgabe unterschiedlicher Bibliotheken, zu Systematiken, Klassifizierungssystemen, zu Ausleihmodalitäten und Erwerbspraxis und vielem mehr aus. Deutlich wird, wie unterschiedlich, weil institutionenabhängig, sich der Zugriff auf Denkräume und Wissensordnungen präsentieren konnte. Eine anregende Lektüre.

Ralf Lützelschwab