Andreas Speer / Thomas Jeschke (Hgg.): Schüler und Meister (= Miscellanea Mediaevalia; Bd. 39), Berlin: De Gruyter 2016, XVII + 899 S., ISBN 978-3-11-046146-6, EUR 199,95
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Wissenskulturen des Mittelalters haben in den letzten Jahrzehnten in einer Vielzahl von Disziplinen intensives Interesse erfahren. Erst unlängst zeigte Sita Steckel in einem gelungenen Forschungsüberblick, den Sie passenderweise mit dem Plural der "Wissensgeschichten" überschrieb, Stand und Perspektiven des Feldes auf. [1] Ein traditioneller, aber immer noch zukunftsträchtiger Zugang ist bei der Untersuchung dieser weiten Thematik jener über die involvierten Personen. Verfolgt wird diese Herangehensweise auch im neuesten Band der renommierten Reihe "Miscellanea Mediaevalia". In ihm versammelt finden sich insgesamt 38 deutsch-, englisch- und französischsprachige Aufsätze, die aus Vorträgen auf der 39. Kölner Mediaevistentagung von 2014 hervorgegangen sind. Die große Zahl der Beiträge nötigt dem Rezensenten die salvatorische Klausel ab, dass aufgrund des Umfangs nicht jeder Aufsatz in der vorliegenden Besprechung in extenso Erwähnung finden kann. Vielmehr sollen vor allem die Entwicklungen, Reflexionen und Leerstellen in der Arbeit zu Wissenskulturen, wie sie sich im Band abbilden, im Blickpunkt der folgenden Betrachtungen stehen.
Den inhaltlichen Ton des Tagungsbands setzt Andreas Speer bereits in seiner Einleitung, in der er hervorhebt, dass der Fokus auf dem akademischen Milieu, jedoch auch auf Klöstern, Zünften und der Herrschaftsdidaktik liegen soll. Der Blick auf das Inhaltsverzeichnis macht deutlich, dass vor allem die ersten beiden Aspekte nach wie vor im Zentrum der verschiedenen mediävistischen Disziplinen stehen. Dies ist den Beiträgern natürlich keinesfalls anzulasten. Forschen kann man bekanntlich am ehesten über das, worüber sich Quellen erhalten haben. Das Bild von Schülern und Meistern, das der vorliegende Band bietet, beschränkt sich daher vor allem auf jene kleine Schicht von literaten Männern aus dem monastischen und universitären Kontext, die sich auf Pergament oder Papier in die Geschichte eingeschrieben haben bzw. durch kritische Ausgaben in diese hineinediert worden sind.
In der ersten thematischen Sektion widmen sich Wouter Goris und Martin Pickavé aus philosophiehistorischer Perspektive der Thematik des Wissenstransfers. Catherine König-Pralong wendet sich unter anderem der Rolle des scholastischen Lateins zu. Den nachfolgenden Abschnitt führt anhand einer "Meditation" (61, Anm. 1) zu Dantes Rolle als Schüler und Lehrer Ruedi Imbach ein. Ebenfalls dem Verhältnis von Lehrenden und Lernenden widmen sich die Beiträge von Ueli Zahnd zu Danksagungen an Meister und von Silvia Negri zur Thematik der Demut in Lehr- und Lernprozessen. Den Blick auf philosophierende Frauen lenkt Isabelle Mandrella. Schon der Kurzdurchlauf durch die Aufsätze der ersten beiden Sektionen unterstreicht die besondere Bedeutung, die der Philosophiegeschichte bei der Konzeption der Tagung und des Bandes zukam.
Es folgt ein Abschnitt zu Schüler-Meister-Beziehungen bei den Dominikanern. Im Mittelpunkt stehen wiederum die "großen Männer" wie Albertus Magnus (Henryk Anzulewicz), Ulrich von Straßburg (Alessandro Palazzo) und Thomas von Aquin (Andrea A. Robiglio). Freimut Löser und Walter Senner widmen sich Meister Eckhart, wobei im letzteren Beitrag auch die Beziehung des Dominikaners zu Heinrich Seuse beleuchtet wird. Für die Albertus-Forschung dürfte besonders das von Anzulewicz angefertigte provisorische Verzeichnis von dessen Schülern hilfreich sein.
Die nachfolgenden drei Sektionen schlagen einen weiten thematischen und geographischen Bogen, beginnend mit zwei Aufsätzen zur Pariser Universität über drei Beiträge zur Lehrer-Schüler-Beziehung in Byzanz und fünf Studien zur Rolle derselben in der jüdischen Tradition bis hin zu vier Untersuchungen zu "Lehren und Lernen im arabischen Kontext". Dem Aspekt der Autodidaktik widmet sich anschließend unter anderem ein Aufsatz von Angelika Kemper zu Gedächtnislehren. Schon die bloße Aufzählung der Beiträge in diesem Part des Tagungsbands unterstreicht die Vielschichtigkeit und die räumliche Dimension des Phänomens der Lehrer-Schüler-Beziehungen.
Wer eine verhältnismäßig kurze Einführung in das Œuvre zweier Kenner der Wissensgeschichte sucht, seien in der folgenden Sektion die Aufsätze von Sita Steckel (Character und Expertise. Constructing Sacralized Mastership in Northern und Western Europe, c. 800-1150) und dem seit mehreren Jahrzehnten entsprechend ausgewiesenen Jürgen Miethke zu Wilhelm von Ockham ans Herz gelegt. Am Ende des Bandes stehen zwei Sektionen, die den Fokus der bis zu diesem Punkt gebotenen Beiträge bedeutend erweitern, indem sie sich vor allem nicht-akademischen und nicht-geistlichen Schülern und zum Teil auch Lehrern zuwenden. Der Abschnitt "Lernen durch Erfahrung" lenkt den Blick auf Straßburger Gesellen und Handwerker (Sabine von Heusinger), auf Architekten in der italienischen Renaissance (Hubertus Günther) und auf spätmittelalterliche Musikunterweisungen (Felix Diergarten). Herrschern als Lehrenden und Lernenden widmen sich die anschließenden vier Beiträge zu Alfons X. von Kastilien (Hans-Joachim Schmidt), zum König als Geistlichem und Herrscher (Václav Drška), zu Ludwig IX. von Frankreich (Brigitte Stark) und zur Rolle von Schülern und Meistern in der frühen böhmisch-tschechischen Reformation (Ivan Hlaváček).
Die große Zahl von Beiträgen zu ganz unterschiedlichen Themenfeldern lässt den Leser äußerst breit informiert zurück. Mit Ausnahme einiger äußerst umtriebiger Kollegen, die sich tatsächlich mit all den behandelten unterschiedlichen Themen beschäftigen, dürften weite Teile des Bandes wohl für die meisten Forschenden zukünftig vor allem als thematischer Steinbruch für die jeweils eigene Disziplin dienen. In die häufig bei der Besprechung von Sammelbänden artikulierte Klage ob des fehlenden gemeinsamen roten Fadens in den Beiträgen möchte der Rezensent an dieser Stelle aber nicht einstimmen. Der Wert der Reihe "Miscellanea Mediaevalia" liegt gerade in der Diversität der in ihr versammelten Studien aus den verschiedenen Fächern. Der vorliegende Band kann dabei trotz mancher disziplininterner Unterschiede guten Gewissen als Spiegel der aktuellen Forschungslandschaft zu mediävistischen Wissenskulturen bezeichnet werden. Nach wie vor haben etablierte Themen wie die Pariser Universität oder dominikanische Gelehrte ihren wohlverdienten Platz in der Diskussion. Der Blick an die Ränder Europas und darüber hinaus gewinnt allerdings immer mehr an Bedeutung. Dabei beschleicht den Rezensenten allerdings auch durchaus das Gefühl, dass so mancher Schatz im Bereich der nicht oder nur teilweise akademisch geprägten Lehrer-Schüler-Beziehungen auch noch vor der eigenen wissenschaftlichen Haustür, gerade in vielen regionalen Archiven und Bibliotheken, zu heben und einzuordnen wäre. Aber dies ist weniger als Kritikpunkt denn als freudig erwartungsvoller Blick auf die Zukunft der mediävistischen Wissensgeschichten zu verstehen.
Anmerkung:
[1] Sita Steckel: Wissensgeschichten. Zugänge, Probleme und Potentiale in der Erforschung mittelalterlicher Wissenskulturen, in: Martin Kintzinger / Sita Steckel (Hgg.): Akademische Wissenskulturen. Praktiken des Lehrens und Forschens vom Mittelalter bis zur Moderne, Bern 2015, 9-58.
Benjamin Müsegades