Rezension über:

Axel Gotthard: "Der liebe vnd werthe Fried". Kriegskonzepte und Neutralitätsvorstellungen in der Frühen Neuzeit (= Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht; Bd. 32), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2014, 964 S., ISBN 978-3-412-22142-3, EUR 128,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Anuschka Tischer
Institut für Geschichte, Julius-Maximilians-Universität, Würzburg
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Schnettger
Empfohlene Zitierweise:
Anuschka Tischer: Rezension von: Axel Gotthard: "Der liebe vnd werthe Fried". Kriegskonzepte und Neutralitätsvorstellungen in der Frühen Neuzeit, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 2 [15.02.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/02/25180.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Axel Gotthard: "Der liebe vnd werthe Fried"

Textgröße: A A A

Axel Gotthards Buch stößt in eine Forschungslücke. Neutralität war in der Frühen Neuzeit nicht das völkerrechtlich und politisch gut eingeführte Konzept, das man aus den späteren Epochen und der Gegenwart kennt. Neutralität entwickelte sich in Versuchen, sich der Bellizität dieser Epoche zu entziehen, und galt zunächst einmal als "unklug" (703), "unehrenhaft" (715) und "sündhaft" (723). Wer die Entstehung des Neutralitäts-Konzepts verfolgt, steht folglich vor unterschiedlichen Praktiken, Begriffen und Rechtfertigungen, die sich inmitten von Friedensidealen und Friedenssehnsucht in einer Zeit entfalteten, die im Übergang von Konfessionskonflikten zur Staatsräson kriegerisch war und blieb. Gotthards Darstellung bietet ein breites Spektrum dieser Entfaltung der Neutralität, das der Autor in den Kontext der frühneuzeitlichen Bellizität einbettet, die der gemeinsame Rahmen der verschiedenen Aspekte und Momentaufnahmen ist. Das Resultat ist zugleich eine Geschichte der Kriegskonzepte und oft konkreter Neutralitätskonzeptionen in bestimmten Kriegssituationen.

Der Band gliedert sich in drei Teile, von denen sich der erste und dritte umfangreichen Grundsatzfragen des 16. und 17. Jahrhunderts - dem Verhältnis von Krieg und Frieden sowie den "Akzeptanzproblemen" der Neutralität im theoretischen Diskurs und in der Praxis - widmen, der knappe zweite hingegen den Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges als Beispielfall noch konfessioneller Ordnungsvorstellungen thematisiert. Insbesondere mit dem dritten Teil steht der Forschung nun ein breiter Überblick über das prekäre Phänomen der Neutralität auf breiter Quellenbasis zur Verfügung: Insgesamt stützt Gotthard sich neben gedruckten auf ungedruckte Quellen aus 15 Archiven. Leider gelingt es ihm aber nicht, sein stupendes Wissen und seine breite Quellenbasis analytisch zu ordnen und zu einer stringenten Darstellung hin aufzubereiten: Wenn er selbst sagt, dies sei "ein Buch mit wundersam verschlungenen Wurzeln" (13), so kann man konstatieren, dass diese wundersamen Verschlingungen sich in den Ästen fortsetzen. Das macht sich bereits in den fast 200 Gliederungspunkten bemerkbar, deren Titel an barocke Kapitelüberschriften erinnern. Insgesamt ist die Sprache der Darstellung anstrengend: Allgemeinplätze im alltagssprachlichen Plauderton, weitschweifige Bemerkungen und rhetorische Fragen, die allesamt oft noch in den Fußnoten fortgeführt werden, stehen neben langen, nicht übersetzten Quellen- und Literaturzitaten.

Dabei entwirft Gotthard ein Entwicklungsmodell der frühneuzeitlichen Politiktheorie und des Völkerrechts, das bemerkenswert ist: Er analysiert die wachsende Friedenssehnsucht und Friedensidealisierung am Beginn der Neuzeit, deren Tendenz durch die Konfessionalisierung unterbrochen wurde. Im Augsburger Religionsfrieden von 1555 sieht er gleichsam eine Initialzündung für die Säkularisierung der Politik, die durch die weiteren konfessionellen Kriege vorangetrieben wurde. Ordnung erscheint als der Schlüsselbegriff zum Verständnis der europäischen Entwicklung und damit auch der weiteren Theorie und Praxis der Neutralität: Die Vorstellung von der göttlichen Ordnung als politischem Ordnungsmodell, für das Frieden ohne Gerechtigkeit unmöglich erschien, wurde abgelöst von pluralen Ordnungsvorstellungen. Friede war schließlich nur noch Ruhe und Ordnung und konnte unterschiedlich aussehen und erreicht werden.

Man kann gegen Gotthards Darstellung neben den bereits ausgeführten sprachlichen und analytischen Einwendungen methodisch einiges ins Feld führen: Die Beispiele der politischen Praxis stammen trotz des allgemeinen Anspruchs weitgehend aus dem Gebiet des Heiligen Römischen Reiches. Die Forschungsliteratur hätte systematischer einbezogen werden können. So führt Gotthard zur Entwicklung des Erbfeind-Begriffs im 16. Jahrhundert lediglich eine bei ihm selbst entstandene, nur in der UB Nürnberg-Erlangen nachgewiesene Magisterarbeit an (233). Auch inhaltlich kann man einiges einwenden: Gegen die These vom "Verblassen der Bellum-iustum-Doktrin" (21) spricht die Neubelebung der Völkerrechtstheorie seit dem 16. Jahrhundert, deren Vertreter von Gotthard selbst vielfach zitiert werden. Die Vorstellung, der frühneuzeitliche Souverän habe seine Kriege nicht rechtfertigen müssen (19ff.), lässt sich weder mit ständischer Mitsprache über den Kriegsfall im Reich (spätestens seit 1648) oder auch in Dänemark (bis 1665) oder Schweden in Einklang bringen, noch mit der Existenz einer Fülle von legitimierenden Manifesten kriegführender Fürsten. Überhaupt ist die frühneuzeitliche Öffentlichkeit Gotthard keine größere Auseinandersetzung wert: Der "gemeine Mann" - "Herr Hinz" und "Frau Kunz" - erscheint als vermeintlich friedenswillig, aber irrelevant (92). Wenn man diese Ansicht vertritt, so bedürfte es zumindest einer intensiven Auseinandersetzung mit jener Forschung, die auf guter Quellengrundlage in eine andere Richtung weist und je nach Fallbeispiel unterschiedlichen Eliten bis hin zu größeren Bevölkerungsgruppen konkreten Einfluss zuweist, der im Übrigen tendenziell eher kriegstreibend als friedensfördernd angesetzt wird. [1]

Insgesamt ist Gotthards Buch eine Pionierstudie zur Neutralität und zugleich ein interessantes Modell zur Entwicklung des europäischen Systems, das diskutiert werden sollte. Dem Autor ist eine intellektuell anregende und lehrreiche Tour d'Horizon über die Bellizität der Frühen Neuzeit gelungen, die dem Leser allerdings nicht nur einiges an Vorwissen, sondern auch an Geduld abverlangt.


Anmerkung:

[1] Siehe z.B. zur Rolle von breitenwirksamer Kommunikation im Niederländischen Unabhängigkeitskrieg: Dirk Maczkiewitz: Der niederländische Aufstand gegen Spanien (1568-1609). Eine kommunikationswissenschaftliche Analyse (= Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas; Bd. 12), Münster u.a. 2005. Zur Rolle verschiedener Interessengruppen beim Ausbruch des englisch-niederländischen Krieges 1652: Bernard Capp: Cromwell's Navy. The Fleet and the English Revolution 1648-1660, Oxford 1989, 76f. Zum Einfluss von Propaganda auf die Glorious Revolution: Kai Nürnberger: Die Kunst der Information. König Wilhelm III. und die Medien seiner Zeit, Heidelberg 2003.

Anuschka Tischer