Rezension über:

Heidi Eisenhut / Anett Lütteken / Carsten Zelle (Hgg.): Europa in der Schweiz. Grenzüberschreitender Kulturaustausch im 18. Jahrhundert, Göttingen: Wallstein 2013, 336 S., ISBN 978-3-8353-0922-7, EUR 29,00
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Rezension von:
Iwan-Michelangelo D'Aprile
Historisches Institut, Universität Potsdam
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Iwan-Michelangelo D'Aprile: Rezension von: Heidi Eisenhut / Anett Lütteken / Carsten Zelle (Hgg.): Europa in der Schweiz. Grenzüberschreitender Kulturaustausch im 18. Jahrhundert, Göttingen: Wallstein 2013, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 6 [15.06.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/06/23373.html


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Heidi Eisenhut / Anett Lütteken / Carsten Zelle (Hgg.): Europa in der Schweiz

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Der auf eine internationale wissenschaftliche Fachtagung zurückgehende und um weitere Beiträge ergänzte Sammelband schließt an eine intensive Beschäftigung mit der Schweiz als zentralem Raum der Kulturvermittlung im 18. Jahrhundert in der Aufklärungsforschung an. Vorliegende Studien, wie der von Martin Fontius und Helmut Holzhey herausgegebene Band Schweizer im Berlin des 18. Jahrhunderts [1], der sich im Wesentlichen auf den europäischen Akademiediskurs konzentriert, oder das Themenheft Deutsch-schweizerischer Kulturtransfer im 18. Jahrhundert der Zeitschrift Das Achtzehnte Jahrhundert [2] werden um entscheidende Aspekte ergänzt und insbesondere im Hinblick auf neuere Forschungsansätze zur Verbindung von materiellem Kulturaustausch und wirtschafts- und konsumgeschichtlichen Fragen mit ideen- und literaturgeschichtlichen Phänomenen erweitert.

Ausgehend von Detailstudien zu einem nur scheinbar eher regional fokussierten Thema, dem Trogener Textilhandelshaus Zellweger und dessen Handels- und Korrespondenznetzen, wird ein ganzes Panorama weitreichender Kulturbeziehungen und Querverbindungen entfaltet, das zentrale Akteure (u.a. Bodmer, Vattel, Sulzer, Geßner, Füssli, Lavater, Herder, Klopstock, Wieland, Goethe), Gattungen und Medien (Enzyklopädien, Wörterbücher, Almanache, Quodlibets, Lieder), und Diskurse (vom Völkerrecht bis zum Literaturstreit) der europäischen Aufklärung umfasst. Dabei werden unterschiedlichste disziplinäre Ansätze von der Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte und der Rechtsgeschichte bis zur Kunst-, Musik-, Philosophie- und Literaturgeschichte verfolgt.

Aus der Fülle der durchweg interessanten und kompetenten Einzelstudien sei dies an einigen Beispielen exemplifiziert: den Ausgangspunkt bildet eine auf Jakob Tanners Erschließungsprojekt der Firmenkorrespondenzen aufbauende wirtschaftsgeschichtliche Untersuchung von Ulrich Pfister zu den globalen Handelsvernetzungen des Textilunternehmens Zellweger & Co im Kontext der Konsumrevolution des 18. Jahrhunderts. Über die Verbindungen insbesondere zu Johann Jakob Bodmer sind diese untrennbar mit der Zirkulation kultureller Phänomene verknüpft.

Dass dem globalen Textilhandel durchaus ein globaler Ideentransfer korrespondierte, zeigt etwa Christoph Good am Beispiel der internationalen Rezeption des Hauptwerks Le droit des gens des schweizerisch-preußischen Völkerrechtlers Emer de Vattel, das wegen seiner pragmatischen, anwendungsbezogenen und wirtschaftsorientierten Interpretation des Naturrechts insbesondere im angelsächsischen Raum und in den Vereinigten Staaten von Amerika zu einem völkerrechtlichen Grundbuch avancierte.

Wie umgekehrt "die Welt" text-bildlich vermittelt über das aufklärerische Leitmedium Almanach auch in breiteren Leserschichten in der Schweiz präsent war, rekonstruiert Alfred Messerli am Beispiel der Darstellungen von James Cooks Pazifikreise 1777, der ersten Pariser Wasserstoffballonfahrt 1783 und des Sturmes auf die Bastille 1789 im Appenzeller Kalender.

Die zentrale Bedeutung von Schweizer Akteuren innerhalb der europäischen Gelehrtenrepublik und die vielfältigen Querverbindungen auf dem Gebiet des aufklärerischen Enzyklopädismus werden in den zwei grundlegenden Beiträgen von Alain Cernuschi und Elisabeth Décultot sichtbar. Ausgehend von einer Typologie der wichtigsten Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts von Chambers Cyclopaedia über Diderots und d'Alemberts Encyclopédie bis zu Felices Encyclopédie d'Yverdon und Pankouckes Encyclopédie méthodique und den jeweiligen Veränderungen in Bezug auf ihre Arbeitspraktiken, Autorentypen und Referenzhorizonte entwickelt Cernuschi seine These, dass die Schweiz in einem historischen Moment zu einem Zentrum des europäischen Enzyklopädismus wird, in dem dessen Produktions- und Rezeptionshorizonte transnational verstanden werden (56). Komplementär dazu ist Elisabeth Décultots Beitrag zu lesen, in dem Sulzers Handbuch der Allgemeinen Theorie der schönen Künste, das eine der Hauptquellen für Felices und Pankouckes Enzyklopädien darstellte, innerhalb der unterschiedlichen grenzüberschreitenden Aufklärungsnetzwerke, Zeitschriften, Geselligkeitsformen und Akademien kontextualisiert wird: von Sulzers Rolle als "literarischer Gesandter" mit klarem kulturpolitischen Auftrag Bodmers in Berlin, über die Gründung des "Montagsklubs" und der Critischen Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit bis zu seiner Tätigkeit als Wissenschafts- und Bildungsorganisator in Preußen. Abgerundet wird der Band durch ein abschließendes literaturwissenschaftlich perspektiviertes Panel, das der Bedeutung des Reiseziels Schweiz für die Entwicklung innovativer poetischer Praktiken und Modelle bei Klopstock, Goethe und Wieland gewidmet ist.

Besonders positiv sei nicht zuletzt angemerkt, dass die Herausgeber in ihrer Schlussbilanz vor einer geschichtsverfälschenden Idealisierung der Schweiz des 18. Jahrhunderts als republikanisches, kosmopolitisches und grenzoffenes Musterländle warnen. Schon die Zeugnisse reflektierter zeitgenössischer Beobachter wie Goethe oder Mirabeau machten auf die engen Grenzen aufmerksam, denen der Kulturtransfer in der Schweiz auf bestimmten Gebieten unterworfen war. Horizonterweiterung und Horizontbeschränkung standen bereits damals in einem untrennbaren Wechselverhältnis und manifestierten sich etwa in calvinistischer oder pietistischer Literatur-, Kunst- und Theaterfeindlichkeit oder im strikten Einreiseverbot für Juden. In diesem Sinn kritisierte etwa Mirabeau im Jahr 1787 Lavater für die Aufforderung an Moses Mendelssohn zum öffentlichen Streit um die Überlegenheit der christlichen Religion, wo doch die Gesetze von Lavaters Vaterland es Mendelssohn nicht einmal erlaubt hätten, diesen in der Schweiz zu besuchen. Und wie Benedikt Jessing in seinem Beitrag eindrücklich zeigt, wird die Ambivalenz zwischen Offenheit und Borniertheit in Goethes Briefen aus der Schweiz aus dem Jahr 1779 schlagartig deutlich, wenn Goethe das damalige gängige Stereotyp der schweizerischen Freiheit mit seinen Eindrücken klaustrophobischer "wohlhabende[r] Bürger in verschlossenen Städten", die "hinter ihren Mauern, eingefangen von ihren Gewohnheiten und Gesetzen [sitzen]" (292f.) kontrastiert.


Anmerkungen:

[1] Martin Fontius / Helmut Holzhey: Schweizer im Berlin des 18. Jahrhunderts (= Aufklärung und Europa: Beiträge zum 18. Jahrhundert), Berlin 1996.

[2] York-Gothart Mix / Markus Zenker / Simone Zurbuchen: Deutsch-schweizerischer Kulturtransfer im 18. Jahrhundert (= Das achtzehnte Jahrhundert - Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts; Bd. 26/2), Wolfenbüttel 2002.

Iwan-Michelangelo D'Aprile