Rezension über:

Fabian Krämer: Ein Zentaur in London. Lektüre und Beobachtung in der frühneuzeitlichen Naturforschung (= Kulturgeschichten. Studien zur Frühen Neuzeit; Bd. 1), Affalterbach: Didymos-Verlag 2014, 444 S., 29 Abb., ISBN 978-3-939020-42-4, EUR 39,00
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Rezension von:
Simona Boscani Leoni
Bern
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Simona Boscani Leoni: Rezension von: Fabian Krämer: Ein Zentaur in London. Lektüre und Beobachtung in der frühneuzeitlichen Naturforschung, Affalterbach: Didymos-Verlag 2014, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 5 [15.05.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/05/26628.html


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Fabian Krämer: Ein Zentaur in London

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Das Buch besteht aus der geringfügig überarbeiteten Fassung der Dissertation des Autors, die im Wintersemester 2011/2012 an der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommen wurde. Es handelt sich um eine Forschungsarbeit über das Wissen über Monster im Zeitraum von der späten Renaissance bis zum 18. Jahrhundert, welche einen sehr interessanten Beitrag zur Historiografie des gelehrten Lesens und der wissenschaftlichen Beobachtung leistet. Die zentrale These des Buchs lautet: Im Zeitraum der "Wissenschaftlichen Revolution" legten europäische Naturkundige keineswegs die Bücher beiseite, um mehrheitlich "empirisch" zu arbeiten, denn die Lektüre blieb ein zentraler Bestandteil ihrer Arbeitsweise, obwohl diese sich wesentlich veränderte (12). Diese Veränderung sieht Krämer als den bedeutendsten Unterschied zwischen der Forschungspraxis eines Albrecht von Haller (1708-1777) und jener von Gelehrten des 16. und 17. Jahrhunderts wie Ulisse Aldrovandi (1522-1605) oder Fortunio Liceti (1577-1657) an. Gerade für diese Zeitspanne hebt Krämer die gleichzeitige Veränderung der Beobachtungspraxis und der Lektürepraxis bei den Gelehrten hervor.

Die Dissertation stützt sich auf die Ergebnisse im Bereich des "practical turn" der Wissenschaftsgeschichte der letzten Jahrzehnte. Besonders wichtig sind die Einflüsse der Arbeiten von Lorraine Daston über die Entstehung der wissenschaftlichen Objektivität und der Beobachtung, jene von Gianna Pomata über die "Genres" in der Medizin und in der Naturforschung, die von Ann Blair, Helmuth Zedelmaier und Martin Mulsow über die Praktiken der Gelehrsamkeit sowie die von Lorraine Daston und Katherine Park über Wunder und Monster. [1]

Das Buch beginnt (in der Einleitung) und endet (im Kapitel 5) mit dem Bericht, man habe in London einen lebendigen Zentaur sehen können. Die Quelle ist eine von Albrecht von Haller 1751 in Göttingen gehaltene Vorlesung zur gerichtlichen Medizin, in welcher der Gelehrte die Nachricht als sehr unwahrscheinlich einstuft und sich sehr kritisch mit dem Thema "Monster" auseinandersetzt. Entgegen der Meinung vieler Naturforschenden des 16. und 17. Jahrhunderts, die an die Existenz von Mischwesen wie Zentauren glaubten, war der Schweizer Mediziner überzeugt, dass Vermischungen zweier unterschiedlicher Arten unmöglich seien und pochte auf die Wichtigkeit von verlässlichen Berichten (19).

Die Kapitel 1 bis 4 beschäftigen sich mit dem Wissen über Monster von der späten Renaissance bis ins 17. Jahrhundert. Kapitel 1 analysiert die Beziehung zwischen Lektüre und Beobachtung in der obengenannten Zeitspanne. Der Autor zeigt, wie fließend die Grenzen zwischen gelehrten und "ungelehrten" Texten waren: Im Allgemeinen lasen die Naturforscher der späten Renaissance und des 17. Jahrhunderts eine breitere Palette von Büchern, in der auch historiografische Texte eine wichtige Rolle spielten (67f.). Zentral ist der Fakt, dass der Begriff der Autorschaft ein anderer war. Die Wissenselemente (oder Faktoide, in Anlehnung an Ann Blairs "tidbits of knowledge"), die in diesen Texten erwähnt wurden, mussten nicht unbedingt von den Autoren durch ihre eigene Erfahrung überprüft werden.

Im Fokus der Analyse von Kapitel 2 steht Ulisses Aldrovandis Notizbuch, das Pandechion epistemonicum. Dank diesem Notizbuch kann der Autor Aldrovandis Praktiken der Lektüre und seine Beschäftigung mit Bildern analysieren. Lesen und beobachten waren zwei gleichwertige Elemente seiner Forschung, sodass das Lesen als ein echter Bestandteil der "experientia" interpretiert werden kann. Aldrovandi sammelte alle möglichen Informationen über Monster und wollte kein Faktoid weglassen: Die Entscheidung, ob ein Monster wirklich existiert hat oder eher nicht, wird dem Leser überlassen. In Aldrovandis Werken spiegeln sich zwei bedeutende epistemische Kategorien der Naturforschung dieser Zeit wider: copia und varietas (124f.).

Im 3. Kapitel wird das Problem des "information overload" nach der Renaissance und der entsprechenden Ordnung des Wissens näher betrachtet. Die Werke über Monster von Johann Georg Schenck von Grafenberg (gestorben 1620) und von Fortunio Liceti stehen im Zentrum der Analyse. Beide Ärzte waren mehr an der Sammlung und Ordnung der verschiedenen Phänomene und an der Erklärung ihrer "sekundären" (natürlichen) Ursachen interessiert, als an der Untersuchung der Primärursachen, die eher den Theologen überlassen wurde.

Der Entwicklung einer anderen Form der Autorschaft innerhalb der Akademien des 17. Jahrhunderts und, besonders, der Rolle der Beobachtung und der Beschreibung von Faktoiden widmet sich das 4. Kapitel. Dort steht die Untersuchung der in Schweinfurt 1652 gegründeten Academia Naturae Curiosorum (später Leopoldina) und deren Veröffentlichung, die Miscellanea curiosa, im Mittelpunkt. In dieser Zeitschrift, wo zahlreiche observationes über Monster veröffentlicht wurden, kann man wichtige Veränderungen im Bereich der Beobachtungspraxis und der Lektüre verfolgen. Die Autoren, die der Zeitschrift ihre observationes schickten, fungierten nicht mehr nur als collectores von Wissen, das aus unterschiedlichen Quellen nach dem veralteten Kriterium der copia und varietas gesammelt wurde, sondern stützten sich direkt auf ihre eigenen Erfahrungen. Kritische Sichtung und Selektion der Quellen werden zentral in der wissenschaftlichen Praxis. Diese Entwicklung verkörpert eine substantielle Veränderung bei der Wahrnehmung von Monstern, die nicht mehr - wie noch in der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs üblich war - als Phänomene praeter naturam, als Wunder und als Gottesbotschaft interpretiert werden mussten. Im Lauf des 17. Jahrhunderts setzt sich nämlich allmählich die Vorstellung einer Natur durch, welche eigenen Grundgesetzen folgt und nur selten außernatürliche Phänomene produziert.

Im Kapitel 5 schließt sich der argumentative Kreis des Buchs, indem der Autor wieder zurück zu Hallers Vorlesungen über Monster kommt. Haller wirft den alten Autoren vor, dass sie "leichtgläubig" waren und unwahrscheinliche Geschichten über Monster verbreitet haben. Mit Hallers Generation werden "credulitas", wie auch "fabula", die zwei zentralen Kategorien der Selektion des Wissensbestandes über Monster. Dadurch werden die Grenzen zwischen der kritischen Beobachtungsfähigkeit der Gelehrten und der Leichtgläubigkeit des vulgus klarer.

Man kann das Buch von Fabian Krämer aus unterschiedlichen Perspektiven als ein gelungenes Werk bezeichnen. Zunächst, weil es eine sehr angenehme Lektüre ist. Zum anderen, wegen der überzeugenden Beweisführung. Krämer zeigt überzeugend, wie nach der sogenannten Wissenschaftlichen Revolution die Skepsis der Gelehrten gegenüber außergewöhnlichen Phänomenen nicht nur das Resultat eines zunehmenden Empirismus ist, sondern auch der gleichzeitigen Entwicklung einer kritischen und selektiven Lektürepraxis zu verdanken ist, welche ihnen eine distanziertere Beurteilung der Quellen, insbesondere der alten auctoritates, erlaubte.


Anmerkung:

[1] Lorraine Daston / Katharine Park: Wunder und die Ordnung der Natur, 1150-1750, Frankfurt am Main 2002 (Or. 1998); Gianna Pomata / Nancy Siraisi (eds.): Historia: empiricism and erudition in early modern Europe, Cambridge Mass. [etc.] 2005; Ann Blair: Too much to know. Managing scholarly information before the modern age, New Haven 2010; Helmut Zedelmaier: Werkstätten des Wissens zwischen Renaissance und Aufklärung, Tübingen 2015; Helmut Zedelmaier / Martin Mulsow (Hgg.): Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit, Tübingen 2001.

Simona Boscani Leoni