Rezension über:

Wenchao Li / Simona Noreik (Hgg.): G. W. Leibniz und der Gelehrtenhabitus. Anonymität, Pseudonymität, Camouflage, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2016, 2 Bde., 1292 S., 11 s/w-Abb., ISBN 978-3-4125-0375-8, EUR 40,00
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Rezension von:
Herbert Jaumann
Neunburg
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Herbert Jaumann: Rezension von: Wenchao Li / Simona Noreik (Hgg.): G. W. Leibniz und der Gelehrtenhabitus. Anonymität, Pseudonymität, Camouflage, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2016, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 2 [15.02.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/02/29534.html


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Wenchao Li / Simona Noreik (Hgg.): G. W. Leibniz und der Gelehrtenhabitus

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Von Leibniz wird die schöne Geschichte erzählt, er sei während seiner großen Reise nach Süden (in den Jahren 1687-90) in Venedig auf einer Schiffstour die Küste entlang in einen schweren Sturm geraten. Als einziger Fremder an Bord habe er Angst bekommen, von den einheimischen Matrosen über Bord geworfen zu werden. "Er aber habe sich nichts anmerken lassen, einen Rosenkranz, den er bei sich hatte, hervorgeholt und getan, als ob er betete. Darauf erklärte einer von den Bootsleuten: weil er sehe, dass der Mann kein Ketzer sei, könne er es nicht übers Herz bringen, ihn töten zu lassen. So sei er mit dem Leben davon gekommen." [1]

Leider bleibt diese Episode unerwähnt in dem an Themen, Materialien und Interpretationen so reichhaltigen Band, der die Vorträge einer internationalen Tagung vom November 2013 versammelt; bekanntlich jährte sich Leibniz' Tod im November 2016 zum 300. Male. Die meisten Autoren sind Mitarbeiter der Leibniz-Edition Potsdam bzw. der Leibniz Universität Hannover, der Herausgeber ist Inhaber der dortigen Leibniz-Stiftungsprofessur und leitet die Potsdamer Edition, Simona Noreik ist seine Mitarbeiterin. Aber das Übergehen der Mitteilung aus der Eckhartschen Biografie hat wohl auch mit einer grundsätzlichen Schwäche des Bandes zu tun: Obwohl Dissimulation, also 'Verstellung', zu zentralen 'Praktiken' gerade auch des konfessionell-religiösen Verhaltens der Leibniz-Zeit gehört [2], wird es hier nur sehr beiläufig erwähnt und systematisch gar nicht berücksichtigt. Die religiöse Praxis der Dissimulation - als das zentrale Thema des Bandes hätte der Begriff auch in den Untertitel gehört -, die ja selbst bei Leibniz von der Gelehrtenrolle oft nicht zu trennen sein dürfte, hätte vergleichend (oder auch anders) auf die säkularen Themen bezogen werden müssen, die in dem Band natürlich zu Recht im Mittelpunkt stehen: die Praktiken von Diplomatie, Politik, Intimität (Freundschaft usw.) und Gelehrtenhabitus.

Wie in mehreren anderen Tagungsbänden vergleichbarer Thematik sorgt Marian Füssel eingangs für einen guten Überblick über die Breite der Aspekte, in dem naturgemäß auch von Konstellationen und Fragestellungen die Rede ist, die in den Beiträgen des Bandes dann nicht aufgegriffen werden. Bei der Fassung des Habitus-Begriffs nach Bourdieu wird die analytische Kompetenz des Rollenbegriffs von Füssel deutlich unterschätzt, und wegweisende Studien wie die Jean-Pierre Cavaillés [3] oder die literarhistorische Galanterie-Forschung etwa seit Manfred Hinz [4] bleiben gänzlich unberücksichtigt.

Es hat durchaus auch komische Züge: Seit Geschichtsforschung partout nicht mehr Sozialgeschichte sein will, scheint sie ja mit der Entdeckung der 'Praxeologie' auf den Stein der Weisen gestoßen zu sein. Praxis, nein, natürlich bevorzugt im Plural: 'Praktiken', wohin man sieht. Praxis, jedenfalls die der 'Praxeologie', ist überall und kennt keine Pause. Musste man sich als theoretisch interessierter Historiker früher, in der Gesellschaft von Hegel und Marx bis zu Karl Valentin, mit dem leidigen Theorie/Praxis-Problem herumplagen, so ist heute nirgends so viel von Praxis die Rede wie in solchen Tagungsbänden. Einem Cheftheoretiker der Praxeologie macht kein Praktiker mehr etwas vor, wo doch praktisch alles voller 'Praktiken' ist - oder so ähnlich ... Die theoretische, soziologisch aufgeklärte Praxeologie verfügt heute darüber, was Praxis ist bzw. war, und so sind - jetzt im Ernst - Fragen ganz besonders nützlich, wie sie Sebastian Kühn in seinem Beitrag über Dissimulatio als gelehrte Praxis immer wieder stellt, der Reflexionshöhe nach einer der anregendsten des Bandes: Ob es sich, fragt Kühn, bei dem deutlichen Mangel an Dokumenten für die Praxis der Verstellung, jeweils tatsächlich um dasjenige Verhalten und um Momente desjenigen Habitus oder derjenigen sozialen Techniken handelt, den die Etikettierung mit einem Begriff wie 'Dissimulation' heute unterstellt und erwarten lässt? Zwar weniger dem Mangel an verlässlichen Quellen, aber doch wenigstens der Unsicherheit über die historische Semantik etwa von 'Dissimulation' hätte auch die Einbeziehung frühneuzeitlicher Texte abhelfen können, zumal des bekanntesten von Torquato Accetto von 1641: Della dissimulazione onesta [5], den Kühn lediglich erwähnt, so wie auch Margherita Palumbo, die mit ihrem Beitrag über das Camouflage-Spiel zwischen Hannover und Rom zu den vielen Versuchen gehört, die die einzelnen Facetten der nicht immer nur spielerischen Rituale und Techniken der Verstellung in ihren unterschiedlichen Situationen und funktionalen Kontexten durchleuchten: So Sabine Sellschopp über Anonymität und Pseudonymität von Leibniz' politischen Schriften (Segeln ohne oder unter falscher Flagge), Charlotte Wahl über den Mathematiker Leibniz (Die Gier nach Ruhm unter dem Mantel der Bescheidenheit) oder Stephan Waldhoff über Abstufungen von Intimität und Publizität des Briefschreibers (zur Begrenzung von Öffentlichkeit), ein auch in seinen klugen Folgerungen ebenso exemplarischer Beitrag wie derjenige Volker Barths über Leibniz und das Inkognito. [6] Barth handelt vor allem von jenem Idealtyp des zeremoniellen Inkognito, der berühmten 'Inkognitoreise' des Zaren Peter des Großen, der als erster Herrscher 1697/98 mit seinem Gefolge inkognito durch Europa zog und mit zahlreichen Monarchen zusammentraf. Der Band enthält wenig Systematik und Theorie, dafür eine Fülle kluger Beobachtungen und Verhaltensbeschreibungen, die hier nicht ansatzweise referiert werden können.


Anmerkungen:

[1] Das berichtet der erste Biograf Johann Georg von Eckhart, der die Geschichte von Leibniz selbst "oft" gehört haben will: Lebensbeschreibung des Freyherrn von Leibnitz (zuerst 1779). ND in Leibniz-Biographien, Hildesheim 2003. Der moderne Biograf Eike Christian Hirsch (Der berühmte Herr Leibniz, München 2000) zitiert und bezweifelt die Erzählung im Detail (232), was aber ihren Symptomwert für Varianten von in diesem Fall konfessionellem Simulationsverhalten mithilfe eines hochsymbolischen Instruments nicht beeinträchtigt.

[2] Dazu der ebenfalls ergiebige Band Konfessionelle Ambiguität. Uneindeutigkeit und Verstellung als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit, hg. von Barbara Stollberg-Rilinger u.a., Gütersloh 2013. Vgl. die Rezension des Verf. in: literaturkritik.de 16 (2014), Nr. 5.

[3] Jean-Pierre Cavaillé: Dis/simulations. Jules-César Vanini, François La Mothe Le Vayer, Gabriel Naudé, Louis Machon et Torquato Accetto, Paris 2002.

[4] Manfred Hinz: Rhetorische Strategien des Hofmannes. Studien zu den italienischen Hofmannstraktaten des 16. und 17. Jahrhunderts, Stuttgart 1992; und jüngst der Band Die Kunst der Galanterie. Facetten eines Verhaltensmodells in der Literatur der Frühen Neuzeit, hg. von Ruth Florack, Berlin 2012.

[5] Die deutsche Übersetzung, mit Vorworten von Giorgio Manganelli und den Erläuterungen von Salvatore Nigro, Torquato Accetto: Von der ehrenwerten Verhehlung, Berlin 1995. Die Übersetzung von Marianne Schneider ist wenig überzeugend, angefangen von der unüblichen "Verhehlung" für "dissimulazione" (statt der vielleicht ungenauen, aber verständlichen "Verstellung"). Maßgeblich ist die Edition von Salvatore Nigro, 2. Aufl., Torino 1997.

[6] Vgl. in extenso Volker Barth: Inkognito. Geschichte eines Zeremoniells, München 2013.

Herbert Jaumann