Rezension über:

Sean A. Adams (ed.): Scholastic Culture in the Hellenistic and Roman Eras. Greek, Latin, Jewish (= Transmissions; Bd. 2), Berlin: de Gruyter 2019, 230 S., eine Farb-, 2 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-065787-6, EUR 79,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Beatrice Wyss
Institut für Neues Testament, Universität Bern
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Beatrice Wyss: Rezension von: Sean A. Adams (ed.): Scholastic Culture in the Hellenistic and Roman Eras. Greek, Latin, Jewish, Berlin: de Gruyter 2019, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 3 [15.03.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/03/34219.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Sean A. Adams (ed.): Scholastic Culture in the Hellenistic and Roman Eras

Textgröße: A A A

Der Sammelband vereint eine Einleitung, neun Aufsätze in Englisch, geschrieben von sechs Forscherinnen und drei Forschern. Grundlage des Bandes bildet eine Konferenz, die 2017 in Glasgow stattgefunden hat und vom Herausgeber organisiert wurde.

Die Aufsätze decken die Zeit vom Hellenismus (3. Jahrhundert v.Chr.) bis in die byzantinische Zeit ab, mit einem Schwerpunkt in der frühen Kaiserzeit (1.-2. Jahrhundert n.Chr.). Weit ist der geographische Raum, er reicht vom Zweistromland bis nach Rom, von Griechenland bis nach Ägypten. Erschienen ist der Band in einer neuen Reihe: Transmissions. Studies on conditions, processes and dynamics of textual transmission. Der Fokus der Reihe erklärt den Schwerpunkt der Aufsätze, die sich mit verschiedenen Medien (Literatur, Archivalien auf Inschriften und Papyri) und Überlieferungsweisen nicht-literarischer Texte beschäftigen. Eine Bemerkung zum Titel «Scholastic Culture»: 'Scholastic' bedeutet 'akademisch', 'wissenschaftlich', auch 'schulisch'. Die Aufsätze behandeln indes nicht alle heute üblichen akademischen oder wissenschaftlichen Fächer, sondern fokussieren sich auf Philologie, Rechtsgeschichte und Geschichte. Wichtig ist neben dem Aspekt der Wissensvermittlung die Materialität der wissenschaftlichen Werke, das Layout von Buchrollen oder Codices, sowie die Orte, die für philologisch-literarisches Arbeiten wichtig sind, nämlich Bibliotheken und Buchläden. Der Ansatz ist interdisziplinär: Archäologie, Philologie, Papyrologie, Epigraphik, Judaistik.

Der Band gehört zu einer kleinen Gruppe neuerer Bücher, die Hellenismus und Kaiserzeit nicht mehr getrennt behandeln und die Bildungsphänomene interdisziplinär und «interkonfessionell» behandeln. [1] Christlichen Autoren ist kein eigener Aufsatz gewidmet, in mehreren Aufsätzen kommen christliche Autoren zur Sprache.

Archive als Quellen für Historiker diskutiert Gaëlle Coqueugniot; sie konstatiert eine Zunahme von Archivmaterial als Quellen für Historiker vom 4. - 2. Jahrhundert. v.Chr. Die Zunahme von Archivmaterial steht in Zusammenhang mit der Zunahme von Schriftlichkeit. Atthidographen und andere Lokalhistoriker stützen ihre Chronologien und Aitiologien für lokale Kulte und Traditionen auf Archivmaterialien. Sie vermutet, dass dies auch unter Einfluss «orientalischer» Archivkultur geschah, vermittelt über Berossos aus Babylon, Manetho aus Ägypten, Menander aus Ephesos, der phönizische Archivalien übersetzte. Denn in den erwähnten Hochkulturen waren königliche Archive etablierter Bestandteil der Kultur.

Drei Aufsätze behandeln das trockene und wenig zugängliche Gebiet der griechischen Lexika, zwei davon Herodians Peri katholikes prosodias (Über die richtige Betonung). Das Verdienst dieser Aufsätze liegt darin, dass sie ein Gebiet der klassischen Philologie ins Zentrum rücken, das zwar kontinuierlich mit neuen Fragmentsammlungen und Editionen erschlossen wird [2], aber innerhalb des Faches wenig wahrgenommen wird. Lexika aus der Kaiserzeit kamen nur selten integral in die Gegenwart, häufiger in Form von Epitomien, abgekürzten Versionen. Im Epitomierungsprozess gingen Informationen verloren (als erstes die literarischen Belegstellen, dann die Namen der Autoren), andere kamen neu hinzu, z.B. christlich-jüdische Namen (Stephanie Roussou). Lexika wurden, wie Papyrusfragmente zeigen, auch privat exzerpiert. Diese Exzerpte sind deshalb Zeugnisse für Partizipation an der Wissenschaftskultur auch in der Provinz (Myrto Hatzimichali). Analogie als Strukturprinzip der Grammatik wurde im 2. Jahrhundert abgelöst vom Attizismus, d.h. ein Wort galt nur dann als korrekt, wenn es im Kanon attischer Autoren belegt war. Diese Entwicklung verortet Eleanor Dickey vor dem Hintergrund des Koine-Griechischen, das unter Eliten das Bedürfnis nach Distinktion weckte und den Rückgriff auf das Griechisch der klassischen Zeit förderte. (Zur Veranschaulichung: Attizismus auf heutige, deutschsprachige Verhältnisse übertragen, würde bedeuten, dass nur ein Deutsch, wie es Luther und seine Zeitgenossen schrieben, als korrektes Deutsch gälte.)

Drei Aufsätze beschäftigen sich mit römischen Verhältnissen, mit dem Layout von Gesetzescodices (Serena Ammirati), mit Orten für Buchkultur in Rom und mit Suetons Biographien und Bibliothekskatalogen (Richard Marshall). Matthew Nicholls sieht einen Zusammenhang zwischen der literarisch bezeugten Häufung von Buchläden an der via sandaliaria und dem Vorhandensein von mehreren Bibliotheken im angrenzenden Quartier.

Zwei Aufsätze nehmen Juden in den Blick. Sean Adams vergleicht und kontrastiert die Übersetzungspraxis lateinischer Autoren, die sich griechische Texte aneignen, mit der Übersetzungspraxis jüdischer Autoren, die die Tora ins Griechische übersetzen, oder mit Jesus Sirach, der das Werk seines Grossvaters ins Griechische übersetzte. Den freien Umgang der Römer mit den griechischen Texten sieht Adams als weiteren Aspekt römischer Dominanz über die Kultur eines eroberten Volkes, dessen kulturelle Leistungen sich die Römer aneignen. Zudem waren in Rom die griechischen Originale verfügbar, die lateinische Adaption wollte diese nicht ersetzen. Anders sieht es für die Juden aus, ein erobertes Volk, das in der Diaspora-Situation den heiligen Text in die Sprache der dominanten Bevölkerung übersetzt, weil sie sich sprachlich assimiliert hatten. Hier spielen Fragen nach Inspiration der Übersetzer und Texttreue eine grosse Rolle. Catherine Heszer schlägt überzeugend vor, Rabbis als «Intellektuelle» zu sehen, als lokale Gelehrte, die auf ähnliche Weise mit Schülern interagieren, Traditionen bilden und pflegen und Identitäten erhalten, wie griechische Philosophen, Sophisten oder christliche Kirchenväter und Mönche.

Das Buch ist nicht nur den wenigen Fachgelehrten zu empfehlen, sondern allen, die an Altertumswissenschaften interessiert sind und sich mit Fragen von Produktion, Vermittlung und Konservierung von Wissen beschäftigen möchten. Allerdings eignet es sich nicht für Studierende, die Aufsätze setzen ein breites Wissen voraus, auch wenn jeder klug in das jeweilige Thema einführt.


Anmerkungen:

[1] Philip R. Bosman: Intellectual and Empire in Greco-Roman Antiquity, London / New York 2019. Von der Autorin, zusammen mit Rainer Hirsch-Luipold / Solmeng-Jonas Hirschi (Hgg.): Sophisten in Hellenismus und Kaiserzeit, Tübingen 2017. Jason Zurawski / Gabriele Buccaccini (eds.): Second Temple Jewish «Paideia» in Context, Berlin / Boston 2017 (die Aufsätze konzentrieren sich auf Texte jüdischer Autoren, greifen aber aus in die pagane Kultur und Philosophie.)

[2] Z. B. Margarethe Billerbeck et al.: Stephani Byzantii Ethnika, 5 Bde., Berlin 2006-2017.

Beatrice Wyss